Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
kam. Und die Fotos. Das verschaffte ihm einen Vorsprung. Früher oder später reimten seine Verfolger sich vermutlich alles zusammen, aber dann wäre es zu spät. Dann wären Leonie und er bereits an einem sicheren Ort. So zumindest hatte er es sich vorgestellt.
Doch jetzt saß er schon den zweiten Tag in einem Hotelzimmer am Niederrhein fest und hoffte, dass die arglose Hotelinhaberin nicht die Abendnachrichten sah und ihn wiedererkannte. Immerhin hatte sie Leonie nicht gesehen. Dafür hatte er gesorgt. Sie dachte, ein Ehepaar sei bei ihr abgestiegen, Herr und Frau Schneider. Herr Schneider hatte bar bezahlt und den Führerschein seiner Ehefrau als Ausweis vorgezeigt, weil er angeblich seine Papiere ganz unten im Koffer verstaut hatte. Wirklich zu blöd. Natürlich könne er seine Frau eben hereinholen, hatte er angeboten, damit sie unterschreibe. Aber die Hotelinhaberin hatte vollstes Verständnis gezeigt. Nein, das sei nicht nötig. Es handele sich ja nur um eine Formalität.
Melanies Mädchenname war Schneider, sie hatte ihren Führerschein nie ändern lassen. Olaf hatte den Schlüssel entgegengenommen und war zurück zum Wagen gegangen. Das Zimmer lag in einem Anbau. Vor Jahren hatte er hier bei einem Ausflug an den Niederrhein mit Melanie und Leonie zu Mittag gegessen. Gerade rechtzeitig war es ihm gestern Abend wieder eingefallen. Zumindest für diese zwei Nächte waren sie sicher. Und morgen würden sie irgendwo über die grüne Grenze fahren. Die Polizei konnte schließlich nicht jeden Feldweg überwachen.
Olaf schaltete die Nachttischlampe ein und löschte das Deckenlicht. Leonies Augen zuckten. Sie schlief immer noch nicht. Als sie sich vorhin umgezogen hatte, hatte er ein paar Kratzer an ihrem Hals entdeckt. Sie waren schon fast verheilt, doch sie mussten tief und schmerzhaft gewesen sein. Dass Melanie ihr Essen gegeben hatte, das sie krank machte, hatte er gewusst oder zumindest geahnt. Dass sie Leonie zudem misshandelt hatte, traf ihn wie ein Schlag. Er mochte sich nicht vorstellen, was seine Tochter hatte erdulden müssen. Sein armer Liebling! Und er hatte jahrelang tatenlos zugesehen! Er war ein Rabenvater gewesen, hatte in Melanie nur das gesehen, was er sehen wollte, und nicht erkannt, was für eine grausame Bestie sie in Wirklichkeit war. Doch jetzt würde er alles wiedergutmachen.
Er hatte Leonie noch nicht erzählt, dass ihre Mutter tot war. Er wusste nicht, wie. In den Nachrichten hatten sie glücklicherweise nichts darüber gebracht. Es hieß nur, dass ein Familienvater aus Düsseldorf im Zusammenhang mit einem ungeklärten Todesfall gesucht werde. Doch Leonie war nicht dumm. Vermutlich ahnte sie die Wahrheit. Er musste mit ihr reden. Morgen. Er konnte sich nicht länger davor drücken. Vielleicht konnte er sie davon überzeugen, dass es ein Unfall war. Das stimmte ja auch. Es war ein Unfall gewesen, ein unglückliches Zusammentreffen von Ereignissen. Hätte Melanie das Foto in der Zeitung nicht gesehen, wäre sie nicht durchgedreht – und vielleicht noch am Leben.
»Nora ist krank«, sagte Kerstin Diercke statt einer Begrüßung, als sie Lydia und Salomon vor ihrer Wohnungstür sah.
»Es wird nicht lange dauern«, sagte Lydia genauso abrupt. »Aber was wir mit Nora zu besprechen haben, duldet keinen Aufschub.«
»Ich bin nicht verpflichtet, Sie einzulassen«, erwiderte Kerstin Diercke.
Bevor Lydia darauf etwas erwidern konnte, schaltete Salomon sich ein. »Bitte, Frau Diercke. Es gibt eine neue Spur im Fall Antonia Bruckmann, und wir müssen dringend mit Ihrer Tochter sprechen. Sie möchten doch auch, dass der Täter gefasst wird, bevor er weitere Verbrechen begehen kann, oder? Es ist wieder ein Mädchen in Gefahr.«
»Du meine Güte!« Kerstin Diercke zog ohne weiteren Widerstand die Tür auf. »Das ist ja schrecklich! Ich dachte, Sie hätten den Täter.«
»Leider sieht es im Augenblick nicht danach aus.« Salomon trat ein, Lydia folgte ihm. Sie hätte der Frau gern ihre Meinung gesagt, doch sie wusste, wie unklug das war. Es ärgerte sie zwar, aber oft kamen sie mit Salomons Diplomatie weiter als mit ihrer Sturheit.
Nora sah tatsächlich elend aus, ihr Gesicht glühte vom Fieber, die Augen blickten glasig ins Leere. Als Lydia das Mädchen sah, leistete sie Kerstin Diercke innerlich Abbitte.
»Was hat sie denn?«, flüsterte Salomon, der ebenfalls erschrocken dreinblickte.
»Vermutlich nur eine starke Erkältung«, antwortete Kerstin Diercke. »Die Ärztin war eben hier und hat
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