Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
in die Rolle der stummen Zuhörerin drängen lassen wollte. »Ruth Wiechert. Das ist Ingo Wirtz. Wir bräuchten die Unterlagen einer gewissen Nicole Bruckmann, die angeblich vor zehn Jahren hier ihre Tochter Antonia zur Welt gebracht hat.«
»Darf ich fragen, zu welchem Zweck?« Das Lausbubengesicht wurde geschäftsmäßig ernst, und Wesseling wirkte sogleich einige Jahre älter.
»Es hat sich inzwischen herausgestellt, dass Antonia Bruckmann nicht mit ihren Eltern verwandt ist.«
»Ach du liebe Güte, eine Verwechslung?« Für einen Moment sah Wesseling ehrlich entsetzt aus.
»Eher nicht«, sagte Ingo Wirtz. »Nicole Bruckmann war nie schwanger. Sie und ihr Mann behaupten, man hätte ihnen hier in der Klinik ein Neugeborenes übergeben, das offiziell in den Papieren als ihre leibliche Tochter eingetragen wurde. Gegen entsprechende Bezahlung natürlich.«
Der Arzt verschränkte die Arme und trat einen Schritt zurück. »Das kann nicht sein. Sie müssen sich irren.«
»Dann macht es Ihnen doch sicherlich nichts aus, uns die entsprechenden Unterlagen vorzulegen.«
»Es tut mir leid. Dazu habe ich keine Befugnis. Und Sie haben ja wohl keinen Durchsuchungsbeschluss, oder?« Er sah auf die Uhr. Der Lausbube war aus seinen Zügen verschwunden, die blauen Augen wirkten mit einem Mal kalt. »Ich habe eine Patientin, die auf mich wartet.«
»Was ist mit Professor Vogeler? Er hat Frau Bruckmann behandelt. Wir würden ihn gern sprechen.«
Der Arzt sah sie an. Seine Augen waren immer noch ausdruckslos, doch Ruth meinte, ein triumphierendes Blitzen darin zu erkennen.
»Das können Sie gern tun. Ich glaube, Jessica hat seine Telefonnummer.« Er warf einen Blick in Richtung Empfangstheke. »Er hat sich vor einigen Jahren zur Ruhe gesetzt, wenige Monate, nachdem ich hier angefangen habe. Er wohnt in Spanien, Marbella, wenn ich das richtig im Kopf habe.« Er trat noch einen Schritt zurück. »War es das? Ich habe wirklich keine Zeit mehr.«
»Ja«, sagte Wirtz. »Danke.«
Dr. Wesseling wandte sich ab und ging zum Aufzug.
»Wir kommen wieder!«, rief Ruth ihm hinterher.
Der Arzt betrat den Aufzug und drehte sich um. Durch die gläserne Tür sah sie sein arrogantes Lächeln.
Sie machte einen Schritt vorwärts, doch Ingo Wirtz hielt sie fest.
»Lass gut sein«, zischte er ihr zu.
Unsagbare Wut überkam sie.
»Ihr seid immer alle so scheißbeherrscht«, stieß sie hervor, riss sich los und stürmte aus dem Gebäude.
Draußen schlug ihr ernüchternd kalte Luft entgegen. Ruth blieb stehen. Atmete ein und aus. Zähneknirschend gestand sie sich ein, dass sie sich mal wieder zum Affen gemacht hätte, wenn Ingo Wirtz nicht eingeschritten wäre. Was war nur mit ihr los? Warum hatte sie sich nicht besser im Griff? Warum hatte sie nicht wie die anderen ihre Gefühle unter Kontrolle? Aber denen würde sie es noch zeigen, eines Tages würden sie erkennen, was in Ruth Wiechert steckte! Oh ja, die würden sich noch wundern, und zwar gewaltig!
Ingo Wirtz trat neben sie. »Ich hätte dem arroganten Mistkerl auch gern einen Tritt in seinen Designerhosenhintern verpasst.«
»Wirklich?« Ruth sah ihn ungläubig an, er wirkte völlig gelassen.
»Natürlich. Und dieser Barbiepuppe hinter der Empfangstheke auch.«
»Vielleicht können wir das nachholen, wenn wir die richterliche Anordnung haben«, sagte sie, plötzlich wieder optimistisch gestimmt.
Er zog die Brauen hoch.
»Metaphorisch, meine ich.«
Der Wagen holperte den Waldweg entlang bis zu einer Kreuzung. Olaf Schwarzbach bremste, nahm die Karte von seinen Knien und studierte sie. Verdammt! Die Kreuzung war nicht verzeichnet. Eigentlich sollte der Weg hier eine langgezogene Kurve machen und in einen anderen münden. Er musste irgendwo falsch abgebogen sein. So ein Mist! Er reckte den Kopf vor und versuchte, die Hinweisschilder für Wanderer zu entziffern. Doch sie bestanden nur aus Zahlen und Buchstaben, nach Ortsnamen suchte er vergeblich.
Von rechts kam ein Jogger mit Hund. Auch das noch.
»Runter, Leonie!«, zischte er. »Hock dich hinter meinen Sitz, so tief es geht.«
Er blickte in den Rückspiegel. Leonie saß auf der Rückbank und starrte verstockt geradeaus. Dumme Gans! Warum machte sie das? So blöd konnte sie doch nicht sein! Er hatte ihr erklärt, wie wichtig es war, dass sie nicht gesehen wurde.
»Los, duck dich! Mach schon!« Er drehte sich um und streckte die Hand nach ihr aus.
Endlich kam Bewegung in das Mädchen. Sie ließ sich in die Lücke zwischen der
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