Die Welfenkaiserin
Thron der Pfalzkapelle, schäumte sie. Endlich hätten die Aachener gefälligst ihr als Kaiserin zu huldigen.
Doch dazu war es noch zu früh.
Lothar hatte bislang nicht gewagt, die Mitglieder der Kanzlei in Aachen auszuwechseln. Er hatte zwar den Namen des Vaters aus den kaiserlichen Urkunden entfernt, aber diese Schriftstücke wurden immer noch in seiner italischen Kanzlei angefertigt. Lothar bot Einhard an, sich als Abt in sein geliebtes Seligenstadt zurückzuziehen, doch der Lehrer der Hofschule hatte abgelehnt. Keiner der Aachener Getreuen Ludwigs war zu bewegen, freiwillig abzudanken und einem Vasallen des neuen Kaisers Platz zu machen. Lothar vermutete hinter diesen Verweigerungen seine Brüder Pippin und Ludo, die allen seinen Versprechungen zum Trotz nicht bereit waren, zur Ordinatio imperii zurückzukehren. Sie wollten sich ihrem Bruder als Kaiser nicht unterwerfen, sondern beriefen sich auf die Lex Salica, nach der es kein Erstgeburtsrecht gab und offenbleiben sollte, wem nach Ludwigs Tod die Kaiserwürde zustand. Unentwegt wiegelten sie die Aachener Kanzlei, die Ludwig unverdrossen als Herrscher anerkannte, gegen ihren älteren Bruder auf.
Sein Schwiegervater hatte ihm geraten, sich vorerst aus dem östlichen Teil des Frankenreichs fernzuhalten und sich seiner Vasallen in den ihm vertrauteren Bereichen zu versichern. Das bedeutete natürlich, sie ordentlich auszustatten, wobei Graf Hugo, der sich jetzt als zweiten Mann des Reiches betrachtete, für sich selbst den wesentlichsten Teil in Anspruch nahm. Eine derartige Bevorzugung schuf wiederum böses Blut bei Lothars anderen Verbündeten.
»Das ganze Reich ist zur Beute verkommen!«, tobte Abt Markward in Prüm, als er die jüngsten Berichte über Schenkungen las und das Gerücht über einen möglichen Mordanschlag auf Karl vernahm. Der Abt gab zwei Mönchen sofort den Auftrag, Frau Gerswind aufzutreiben, und ließ den jungen Karl zu sich kommen.
»Mein Sohn«, sprach er zu dem Zehnjährigen, »du wirst für die nächste Zeit zu deiner Großtante Gerswind ziehen.«
Karls Augen leuchteten auf. »Dann muss ich nicht zu jedem Gebet in die Kirche?«
Vater Markward unterdrückte ein Lächeln. »Es sollte dir eine Freude sein, dem Herrn mehrmals täglich deine Aufwartung machen zu dürfen.«
Karl war nicht dumm. »Das kann ich doch auch unter freiem Himmel zu freier Zeit?«
»Du hast den Sinn der Andacht begriffen, Karl, das freut mich. Dennoch ist das Haus des Herrn ein besonderer Ort. Geh jetzt dorthin, in unsere Goldene Kirche, betrachte mit Hingabe die Sandale Jesu und bedenke dabei, welch schwere Wege der Herr darin zurücklegen musste, ehe ihm Erlösung zuteil wurde. Halte dich dort auf, bis ich dich holen lasse.«
»Ja, Väterchen Abt«, sagte Karl gehorsam. An der Tür wandte er sich noch einmal um. »Meinem Vater, dem Kaiser, geht es doch gut?«, fragte er besorgt.
»Ja«, antwortete Abt Markward und wartete. Doch Karl erkundigte sich nicht nach seiner Mutter.
Die beiden ausgesandten Mönche fanden Gerswind im Wald nahe dem Flüsschen Prüm, wo sie an einem seltsam geformten Felsen offensichtlich nach Pilzen oder anderen Waldfrüchten suchte. Jedenfalls kniete sie auf dem Boden und hatte neben sich einen Weidenkorb stehen.
»Frau Gerswind«, rief der ältere Mönch, »du sollst sofort zum Väterchen Abt kommen!«
Sie schien aus einer anderen Welt aufzutauchen, als sie erschrocken hochfuhr: »Ist etwas mit Karl?«
Die beiden Mönche lachten. »Nein, er ist zum Beten in die Kirche geschickt worden.«
»Also ist doch etwas mit ihm«, murmelte Gerswind, als sie sich recht mühsam erhob. Die Knochen taten ihr weh, aber darüber klagte sie nicht, denn für eine Frau von genau fünfzig Sommern gehörte sich das so. Die erwärmten Birkenblätter, die sie heiß in ein Leinensäckchen füllte und über Nacht auf die schmerzhaften Stellen legte, brachten nur vorübergehend Linderung, wie auch die erhitzten rohen Kohlbätter, die Wurzeln des Farnkrauts und die Heublumen. Sie war dankbar für alles, was ihr das Leben in diesem hohen Alter erleichterte, und dachte oft daran, wie sie schon als kleines Kind hätte hingerichtet werden können, weil sich das damals so widerspenstige Sachsenvolk ihrem Karl widersetzt hatte. Der natürlich erst sehr viel später ihr Karl geworden war, der Mann, um dessentwillen sie so viel gelitten, aber durch den sie auch so unendlich viel Wonneleben erfahren hatte. Heute waren die Sachsen zuverlässiger als jeder andere
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