Die Welfenkaiserin
Verschiedentliches regnete auf das Stroh; dann schloss sich die Falltür wieder.
Als Erstes griff Judith nach einem großen Gegenstand, der sich als Lederschlauch herausstellte. Sie vermutete darin süßes Wasser, öffnete ihn und setzte ihn hastig an die Lippen. Ihre Kehle brannte vor Durst. Der Wein war jedoch so sauer, dass sie den ersten Schluck sogleich wieder ausspie. Zwischen dem Stroh ertastete sie etwas Hartes, das sich unter dem Lichtspalt als das schwärzeste Brot entpuppte, das sie je gesehen hatte. Mit den Fingernägeln pulte sie die angeschimmelten Stellen aus dem Kanten heraus und war dann froh über ihre starken Zähne. Da sie nicht wusste, wann sie wieder etwas zu essen erhalten würde, bewahrte sie ein kleines Stück des Brotes auf.
Nachdem sie den schlimmsten Hunger gestillt hatte, schälte sie sich aus ihrer Kleidung und hing sie zum Trocknen an jenen Mauervorsprung, an dem sie sich die Fingerkuppe verletzt hatte. Sie schüttete ein wenig sauren Wein in die Handflächen, befeuchtete damit ihre Schläfen und begann ihren ganzen Körper erst mit den Händen, später mit Strohbüscheln so lange abzureiben, bis er zu glühen schien. Danach ging es ihr etwas besser. Schon weil die körperliche Betätigung sie am Nachdenken hinderte. Sie fürchtete, verrückt zu werden, wenn sie sich Überlegungen hingab, und sie musste in Bewegung bleiben, um nicht abermals so entsetzlich zu frieren. Inzwischen hatten sich ihre Augen soweit an die Dunkelheit gewöhnt, dass ihr der kleine Lichtstrahl aus dem Gesteinspalt fast wie ein Lämpchen vorkam. In dessen Schein wollte sie ihre Zelle zumindest für die Nacht bewohnbar machen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie hier längere Zeit verbringen sollte – was hätte das für einen Sinn gehabt? Man würde sie gewiss am nächsten Tag in ein Kloster bringen, tröstete sie sich, wo sie sich von allen Strapazen erholen könnte. Im Nachhinein erschien ihr die Zeit im Radegundis-Kloster zu Poitiers als die angenehmste und sorgenfreiste ihres Lebens.
Sie begann das frische Stroh aus der Mitte des Kerkers in eine trockene Ecke zu räumen und entdeckte dabei mehrere halb abgenagte Hühnerknochen, die offensichtlich noch zu ihrem Abendbrot gehörten. Angeekelt warf sie diese zur Seite. Da sie aber noch immer hungrig war, träufelte sie etwas Wein auf den Rest des Brotkantens, der dadurch nicht nur mürbe wurde, sondern auch besser schmeckte. Es erwies sich als sehr mühseliges Unterfangen, als sie dann begann, das verfaulte Stroh durch den schmalen Lichtspalt nach draußen zu befördern, aber sie hatte keine andere Wahl und hoffte, vor Einbruch der Dunkelheit ihre Zelle so weit gesäubert zu haben, dass sie in dem frischen Stroh zur Ruhe kommen konnte.
Der Mönch und der Knecht fanden in der Gaststube der Abtei zu Tortona freundliche Aufnahme. Fast schien es so, als hätte man sie erwartet.
Ein rotgesichtiger alter Benediktiner stellte zwei Becher mit funkelndem Rotwein vor sie hin, beugte sich zu Ruadbern und fragte flüsternd: »Kommt der Bischof schon morgen?«
Ruadbern hob den Becher, prostete dem Mann zu und erwiderte genauso verschwörerisch: »Es ist mir verboten, darüber Auskunft zu geben.«
Verständnisvoll nickte der Alte und versicherte: »Er wird alles zu seiner Zufriedenheit vorfinden.« Er deutete in eine Ecke, wo mehrere Männer, darunter auch Mönche, die Köpfe zusammengesteckt hatten.
»Es werden Wetten darüber abgeschlossen, wer zuerst eintrifft, der Bischof oder der Graf. Wenn du mir, Bruder, dazu einen ganz kleinen Hinweis geben könntest?«
»Nur, dass sie aus unterschiedlichen Richtungen hier eintreffen werden«, flüsterte Ruadbern.
»Das weiß ich auch! Lucca liegt im Süden und Verona im Nordosten!«, rief der Mann lachend, hob die Hände und eilte zu den anderen Gästen.
»Bonifatius Graf von Lucca und Rathold Bischof von Verona«, überlegte Ruadbern laut.
»Du kennst sie?«, fragte Arne beeindruckt.
»Nur aus Briefen. Sie waren Kaiser Ludwig einst wohlgewogen.«
Arnes Augen leuchteten. »Dann werden sie uns helfen, die Kaiserin zu befreien!«
Ruadbern stieß einen tiefen Seufzer aus. »Eher, sie zu bewachen. Dies ist Lothars Hoheitsgebiet, und ihm sind sie den Dienst schuldig.«
Später fragte er den Alten nach dem seltsamen Turmgebäude, das ihnen jenseits der Ansiedlung aufgefallen sei.
»Es sieht nicht so aus, als wohne jemand darin«, bemerkte Ruadbern.
»Die wenigen Leute, die einst darin gewohnt haben, wurden alle
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