Die Welfenkaiserin
die Ordinatio imperii bestätigen und eine Doppelhochzeit gefeiert wird: Ludwigs ältester Sohn Lothar nimmt Irmingard zur Gemahlin, Tochter des Grafen Hugo von Tours und liebste Freundin der Kaiserin. Deren Bruder, Konrad Welf, vermählt sich mit Irmingards Schwester Adelheid. Er wird gemeinsam mit seinem Bruder Rudolf in den Hofstaat des Kaisers aufgenommen, dem jetzt auch des Kaisers Patensohn Bernhard angehört, der Sohn des Grafen von Toulouse.
An der Nordgrenze des Reichs herrscht Ruhe. Ohne dass es zu fränkischem Blutvergießen gekommen ist, teilt sich Harald Klak jetzt mit seinem Bruder und einem der vier Söhne Göttriks das dänische Königtum. Er ehrt sein Versprechen und hält die Wikingerschiffe den fränkischen Küsten fern.
Mit unerfreulichem Wetter klingt das Jahr aus. Nach einem ungewohnt stürmischen Herbst mit anhaltendem Regen, der vielerorts die Herbstsaat verdirbt, folgt ein außerordentlich strenger Winter, in dem selbst Rhein, Donau, Elbe und Seine monatelang mit einer starken Eisdecke überzogen werden und nicht allein viele Tiere, sondern auch Menschen erfrieren. Kaiserin Judith müht sich, die Not der Armen zu lindern, verteilt höchstselbst Brot, Felle, Decken und Zuspruch. Das Volk huldigt ihrer Güte und Schönheit mit offener Begeisterung. Rabanus Maurus, der künftige Abt von Fulda, widmet ihrer Anmut ein Gedicht. Sein Schüler Walahfrid Strabo verfasst beim Anblick der Kaiserin einen Vers, der Homer zur Ehre gereicht hätte. Mit der edlen Judith, die dem Psalterium und der Harfe bislang unbekannte Wohlklänge entlockt, sind Verfeinerung, Kunstverständnis und Fröhlichkeit an den Hof zurückgekehrt. Selbst der Kaiser wirkt gelöster, und es heißt, dass sich in Gegenwart seiner Gemahlin sogar gelegentlich ein Lächeln auf seinem Gesicht zeigt.
Im Jahr 822
Zu viele Eindrücke stürmten auf sie ein. Der beinlose Mann, der beim Bau der Pfalzkapelle vom Gerüst gefallen war; die schrillen Schreie der zerlumpten Frau, die Hroswitha hieß und zu ihrem Geliebten Kaiser Karl wollte; die Alte, die durch einen Hieb auf den Kopf niedergestreckt wurde, weil sie laut Odin anrief; das winzige Häuflein Haut und Gebein, das vor einem Mond noch gelebt haben mochte und an der mageren Brust eines halbwüchsigen Mädchens klebte; knochige Hände streckten sich nach der Kaiserin aus, tief in den Höhlen liegende Augen starrten sie an, von Krankheiten entstellte Lippen formten Hilferufe – als Judith zusammensackte, sah sie nur noch nackte schmutzige Füße im Schnee.
Der leere Karren, in den sie gehoben wurde, ratterte über die holprigen Steine, die auf dem Weg zum Palatium in die Erde gelassen waren.
»Schnell, sie muss versorgt werden!«
Was denn, dachte Judith, ich muss versorgt werden? Was ist denn mit diesen unglücklichen, verhungernden Menschen in den schäbigen Holzverschlägen am Rande Aachens? Die nach der Missernte darben, nach diesem Winter ausgezehrt sind und Glück haben, wenn sie Waldknollen im vereisten Boden finden oder Ratten für eine karge Fleischmahlzeit fangen? Diese Menschen versorgt niemand. Sie erwarten von mir Hilfe. Zu Recht.
»Die edle Herrin! All diesem Dreck, diesen Ausdünstungen und diesem elenden Lumpengesindel ausgesetzt! Wir hätten nie herkommen dürfen! Schnell weg hier!«
Ja, schnell weg hier. Ich, die edle Herrin, darf dem Volk beim Leiden nicht zusehen – das könnte meinen Sinn für das Schöne, Gute, Feine trüben. Das mir in Altdorf fehlte und mein Heimweh nach Aachen schürte. Gedichte wollte ich schreiben, das Organon spielen, zierlichen Schmuck anlegen und mit Gelehrten plaudern. Wie stolz ich war, als mich der Kaiser erwählte! Den ich seit Jahren betrüge. Wie das Reich auch. Selbstsüchtig bin ich und verantwortungslos! Das hatte sie sich vorgeworfen, seitdem sie im Morgengrauen mit ihrem kleinen Gefolge Lebensmittel, Decken und andere Hilfsgüter unter die Ärmsten der Armen verteilt und sich zwischen ausgehungerten, nur mit Fetzen bekleideten Menschen bewegt hatte, viele von grauenhaften Seuchen gezeichnet.
Das muss ein Ende haben! Übelkeit stieg in ihr auf. Sie zitterte beim Versuch, den bitter schmeckenden Schwall in ihrem Mund zurückzudrängen.
»Schnell, eine Decke!«, hörte sie Irmingards besorgte Stimme. Und dann: »Der Kaiserin ist schlecht geworden!«
»Kein Wunder, sie hätte sich das nicht zumuten dürfen!«, sagte eine Männerstimme.
Schwäche zeigen vor all diesen vom Schicksal gebeutelten Menschen? Wie geschmacklos!
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