Die Welfenkaiserin
Judith richtete sich auf. Ein gut gezielter Stein verfehlte knapp ihren Kopf.
»Soll sie sich doch an unserem Essen laben!« Böse funkelten sie die Augen eines Knaben in Ruadberns Alter an. Da sich mehrere Leute sofort auf das Kind stürzten und die Karrenzieher ruckartig ihre Geschwindigkeit verdoppelten, entging Judith, wie ihr Leibwächter sein Schwert dem Kind mitten ins Herz stieß. Ein Angriff auf Kaiser oder Kaiserin wurde mit dem sofortigen Tod bestraft.
Irmingard beugte sich über sie. »Fahren wir zu schnell? Sollen wir eine Pause machen?«
»Lass anhalten«, befahl Judith. »Ab hier laufe ich. Das geht schneller.«
»Aber du bist krank!«
»Ich bin nicht krank – ich bin schwanger! Und deshalb kann ich gehen.« Sie lehnte jede Hilfe ab und stieg selbst aus dem Gefährt.
»Das ist ja eine wunderbare Nachricht!«
»Bitte behalte sie vorerst für dich. Ich habe mit dem Kaiser noch nicht gesprochen.«
Endlich! Nach drei Jahren treuer Begleitung hatte ihr die Kaiserin ein Geheimnis anvertraut! Was ohnehin nicht lange eins bleiben konnte, dachte Irmingard. Sie hätte mir besser sagen sollen, jetzt zum Palatium fliegen zu wollen, weil das noch schneller gehe. Oder sonst irgendeine Hexerei angeboten. Es fuchste sie, trotz gründlicher Nachforschungen noch immer keinerlei Beweise für Judiths magisches Tun gefunden zu haben. Wie garstig, diese Künste selbst vor ihrer besten Freundin zu verbergen! Aber ebendies bewies einmal mehr ihre Tücke. Wie auch der nebenbei hingeworfene Satz, dass sie guter Hoffnung sei. Aber weshalb hatte sie es Ludwig noch nicht gesagt? Er sollte es doch als Erster wissen! Da stimmte etwas nicht!
»Du musst dich schonen und langsamer gehen«, schlug Irmingard vor, während sie überlegte, ob sie ihrem Mann und ihrem Vater mit der erstaunlichen Neuigkeit auch noch ihren Verdacht anvertrauen sollte: dass dieses Kind von einem anderen Mann stammen könnte. Von ebenjenem Mann, mit dem sich die Kaiserin so häufig traf. Mit dem sie sich entgegen allen höfischen Regeln stundenlang allein in ihrem Gemach aufhielt.
»Ich kann nicht mithalten«, gestand Irmingard. »Mein Bein schmerzt.«
Seit jenem Vorfall nach der Brautschau, der als ihr Unglück zu Pferde bezeichnet wurde, zog sie das schlecht verheilte Bein nach. Und hatte gelernt, sich in Geduld zu üben.
»Entschuldigung, Irmingard, liebste Freundin, aber ich muss sofort mit Ludwig reden.«
Irmingard versuchte, mit ihr Schritt zu halten.
»Er ist gewiss noch im Rat«, keuchte sie. Judith hatte endlich Schwäche gezeigt. Nach dieser Offenbarung würde sie vielleicht Weiteres erzählen.
»Das ist mir gleich.«
Judiths Kräfte waren zurückgekehrt. Ohne auf Irmingards Behinderung zu achten, stürmte sie an den Wachen vorbei ins Palatium und eilte zur Beratungskammer des Kaisers. Sie holte tief Luft, beruhigte ihr heftig klopfendes Herz und öffnete leise die Tür.
Einhard, der am Eingang saß, blickte alarmiert auf. Sonst hatte niemand das Erscheinen der Kaiserin bemerkt, da alle aufmerksam dem Königsboten lauschten, der gerade von seinen Beobachtungen berichtete. Judith nickte Einhard freundlich zu, legte den Zeigefinger an die Lippen, zog einen Fußschemel heran und ließ sich hinter Lothar und Pippin nieder, den beiden ältesten Söhnen des Kaisers.
»Der Eisgang am Rhein hat derartige Schäden angerichtet, dass ganze Dörfer und fast alle Brücken bedroht sind«, meldete der Königsbote gerade. »Die Gaugrafen sind nicht in der Lage, alle Not zu lindern, und bitten um weitere Hilfe aus Aachen.«
Erwartungsvoll blickten alle zum Herrn des Reichs, der an diesem Morgen zu keinem Problem eine Lösung vorgeschlagen hatte und stumm wie ein Bildnis seiner selbst auf dem Thron saß.
Sag doch was, flehte ihn Judith innerlich an.
Doch Kaiser Ludwig blickte weiterhin reglos geradeaus. Die Stille im Raum war beängstigend. Keiner wagte, jetzt noch ein Wort hervorzubringen.
Biete Hilfe an, setze Truppen in Bewegung, baue Brücken und Dörfer wieder auf, gib den Leuten ein Dach über den Kopf und zu essen! Tu was! Ihre Gedanken kamen bei Ludwig nicht an.
Das Schweigen wurde unerträglich.
Sag was!
Endlich sprach er.
»Ja, ich werde Buße tun.«
Starr vor sich hinstierend, stieg er von seinem Thronsessel und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Er war so in Gedanken versunken, dass er seine Gemahlin streifte, ohne sie wahrzunehmen.
Verblüfft sahen die Anwesenden einander an.
»Wenn der Kaiser von Gottes Gnaden das
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