Die Welfenkaiserin
winzigsten Hinweis auf zauberisches Tun.
Sie sei als Erste wach und verbringe viele Stunden im Gebet, führte die Äbtissin aus und setzte hinzu: »Und wie der Heiligen Radegundis selbst sind auch ihr die niedrigsten Dienste nicht zu beschwerlich.« Sie sammele Brennholz, schüre das Feuer mit Blasebalg und Zange, versorge die Wäsche, putze Gemüse, schöpfe Wasser aus dem Brunnen und säubere den Abort. Keine Arbeit sei ihr zu gering. Zudem habe sie sich aus eigenem Antrieb in der Krankenpflege verdient gemacht, spreche den Leidenden Trost zu, wache nächtelang am Bett Sterbender, wasche sogar die Aussätzigen selbst und bringe mit ihrem Gesang allen Siechen Linderung. Nebenbei unterrichte sie die Nonnen sowie Mädchen der Umgebung in Lesen, Schreiben und Rechnen und lese ihnen aus der Bibel vor.
In Graf Hugos Miene spiegelte sich Entsetzen. »Gott steh uns bei!«, rief er. »Ihr Täuschungsvermögen übertrifft meine Vorstellungskraft!«
Obwohl sich auch hier kein Dritter in der karg eingerichteten Empfangskammer befand, blickte er über seine Schultern, beugte sich dann vor und flüsterte der Äbtissin zu: »Um dir den Ernst der Lage zu verdeutlichen, ehrwürdige Mutter, muss ich dir eine Ungeheuerlichkeit verraten, die du für dich behalten solltest. Schließlich wollen wir unter den Schwestern keine Ängste schüren. Es gibt Beweise, dass ihr niemand anders als der gefallene Engel die Kraft zu dieser vermeintlichen Opferfreudigkeit verleiht.« Er machte eine Pause, als fiele es ihm schwer, die passenden Worte zu formen. Gepresst raunte er Äbtissin Philomena schließlich zu, ihre Amtsschwester, die zwölf Jahre zuvor auf der verhängnisvollen Brautschau des Kaisers zusammengebrochen war, habe erst jetzt das Geheimnis um ihre seltsame Ohnmacht gelüftet. »Die ehrwürdige Mutter hat damals mit eigenen Augen geschaut, wie der Herr der Finsternis, von Flammen umlodert, in Judith gefahren war, als sie dem Kaiser vorgestellt wurde.« Schwer ausatmend lehnte sich Graf Hugo wieder zurück.
Äbtissin Philomena schlug das Kreuz und dachte an all die Berichte, in denen sich der Teufel geweihter Räume und gläubiger Menschen bedient hatte. Graf Hugos Worte waren nicht in den Wind zu schlagen. Der fromme Kaiser selbst hatte ja zugegeben, von seiner Gemahlin verhext worden zu sein. Sie durfte sich in der Tat nicht durch eine möglicherweise vorgeschützte Gottesfürchtigkeit täuschen lassen! Würde eine fromme Äbtissin den wahrhaftigen Anblick des Verdammten überleben können? Sie nahm sich vor, ihrer Amtsschwester einen Brief zu schreiben, um aus erster Hand von der Vision zu erfahren.
Der Graf von Tours schien ihre Gedanken zu lesen. »Also steht sie ohne Zweifel mit den Mächten der Finsternis in Verbindung, ehrwürdige Mutter«, versetzte er. »Es würde mich nicht wundern, wenn sie in mondklaren Nächten auf einem scheußlich anzusehenden Tier über die Klostermauern reitet oder gar im Dormitorium von Dämonen besucht wird, behüte uns Gott!«
Über die Mauern ritt Judith bei Vollmond nicht, doch sie hatte vor, gewissermaßen durch sie hindurchzugehen. Nämlich dann, wenn sie endlich den vermutlich zugemauerten Eingang zu jenem Geheimweg entdecken würde, der aus der alten Zeit stammte, da neben dieser Abtei noch ein Männerkloster gestanden hatte. Ruadbern, der kurz vor Judiths Abreise in Compiègne eingetroffen war, hatte die Vermutung geäußert, ein derart altes Kloster, wie das der Heiligen Radegundis in Poitiers, müsse einst einen Geheimgang gehabt haben. »Über solche Verbindungsgänge verfügten beinahe alle Abteien, als die Führung der Christenheit die Gemeinschaft von Männern und Frauen in den Klöstern auflöste«, hatte er Judith in einem unbeobachteten Augenblick zugeflüstert. »Mönche und Nonnen wurden dann zwar voneinander getrennt in Gebäuden untergebracht, aber gänzlich mochten sie doch nicht voneinander lassen.« Er war bei dieser Erläuterung errötet und hatte sich mit Judith für die nächste Vollmondnacht in diesem Gang verabredet. »Wenn es ihn gibt, werde ich den Eingang von außen zu finden wissen, wenn nicht, werden mir andere Mittel und Wege einfallen, um dir Nachrichten zukommen zu lassen«, hatte er versichert. Und Nachrichten brauchte sie, denn ohne die Vergewisserung, dass ihr Verschwörungsplan langsam in die Tat umgesetzt werden würde und sich Ludwig von den Mönchen nicht doch noch umstimmen ließ, würde sie gänzlich verzweifeln.
Zwei Tage vor der ersten
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