Die Welle
wandte sich ihr zu. »Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Aber ist das nicht irgendwie verrückt?«
»Es ist einfach anders als bisher«, meinte Amy. »Darum kommt es einem so merkwürdig vor.«
»Ja«, bestätigte Brad. »Plötzlich gibt es keine Außenseiter mehr. Was mir an der Schule am meisten auf die Nerven geht, das sind diese vielen kleinen Cliquen. Ich habe die Nase voll davon, jeden Tag als einen kleinen Beliebtheitswettbewerb zu erleben. Das ist ja eben das Tolle an der Welle! Man muss sich keine Gedanken mehr machen, ob man beliebt ist oder nicht. Wir sind alle gleich, wir sind alle Teile einer einzigen Gemeinschaft!«
»Und du meinst, das könnte jedem gefallen?«, fragte Laurie.
»Kennst du einen, dem es nicht gefällt?«, fragte David zurück.
Laurie fühlte, dass sie rot wurde. »Ich bin nicht ganz sicher, ob es mir recht ist oder nicht.«
Plötzlich zog Brian etwas aus seiner Tasche und hielt es Laurie entgegen. »He, vergiss das nicht!«, sagte er. Er hielt seine Mitgliedskarte mit dem roten X auf der Rückseite in der Hand.
»Was soll ich nicht vergessen?«
»Du weißt doch«, erklärte Brian, »dass wir jeden Mr Ross melden müssen, der sich nicht an die Regeln hält.« Laurie war betroffen. Das konnte Brian doch nicht etwa ernst meinen? Aber jetzt grinste Brian, und sie atmete erleichtert auf. »Außerdem hat Laurie auch kein Gesetz übertreten«, sagte David.
»Wenn sie wirklich gegen die Welle wäre, dann doch!«, behauptete Robert.
Die anderen am Tisch schwiegen vor Verwunderung, weil Robert einmal etwas gesagt hatte. Manche von ihnen kannten kaum seine Stimme, weil er so selten sprach.
»Ich meine das so«, erklärte Robert verlegen: »Die Grundidee der Welle ist doch, dass alle ihre Mitglieder sie auch unterstützen müssen. Wenn wir eine Gemeinschaft sein wollen, dann müssen wir auch alle in den Grundsätzen übereinstimmen.«
Laurie wollte etwas erwidern, doch sie hielt sich zurück. Die Welle hatte Robert den Mut gegeben, sich an ihren Tisch zu setzen und sogar am Gespräch teilzunehmen. Wenn sie jetzt etwas gegen die Welle sagte, dann würde sie damit nur ausdrücken, dass Robert wieder für sich sitzen und nicht zu ihrer »Gemeinschaft« gehören sollte. Bradklopfte Robert auf die Schulter. »Du, ich freue mich, dass du auch zu uns gehörst!«, versicherte er.
Robert wurde rot und wandte sich dann an David. »Hat er mir jetzt irgendetwas auf die Schulter geklebt?«, fragte er, und alle am Tisch lachten.
Ben Ross war nicht ganz sicher, was aus der Welle werden sollte. Was als bloßes Experiment im Geschichtsunterricht begonnen hatte, war zu einer Bewegung geworden, die sich jetzt auch außerhalb der Klasse fortentwickelte. Daraus ergaben sich manche unerwarteten Ereignisse.
Zunächst einmal nahm die Zahl der Teilnehmer an seinem Geschichtskurs zu, weil Schüler, die gerade Freistunden hatten, an der Welle teilhaben wollten. Die Werbung neuer Mitglieder war offenbar viel erfolgreicher verlaufen als er sich hätte träumen lassen. Manchmal ließ der Andrang ihn sogar befürchten, dass Schüler andere Stunden schwänzten, um zu seinem Geschichtsunterricht zu kommen.
Seltsamerweise blieben die Schüler im Stoff nicht etwa zurück, weil Zeit für Zeremonien und das Aufsagen der Grundsätze verwendet wurde; vielmehr schienen alle den Stoff eher schneller zu bewältigen als zuvor. Die neue Arbeitsweise – das schnelle Fragen und Antworten –, die die Welle eingeführt hatte, trug dazu bei, dass man schon bald bis zum Eintritt Japans in den Zweiten Weltkrieg vorankam.
Ben bemerkte, dass die häusliche Vorbereitung und die Beteiligung am Unterricht sich wesentlich verbessert hatten, doch es fiel ihm auch auf, dass die Schüler weniger nachdenklich an den Stoff herangingen. Sie sprudelten die erwarteten Antworten nur so hervor, doch sie analysierten und fragten nicht mehr. Einen Vorwurf konnte er ihnendaraus nicht machen, denn schließlich hatte er selbst die Arbeitsmethode der Welle eingeführt. Dieses veränderte Unterrichtsverhalten war einfach eine Nebenwirkung des ganzen Experiments.
Anscheinend, so meinte Ben, begriffen die Schüler, dass eine Vernachlässigung der Hausarbeit schädlich für die Welle sein musste. Wollten sie sich genügend mit ihrer gemeinsamen Bewegung beschäftigen, so mussten sie so gut vorbereitet sein, dass sie den vom Lehrplan vorgeschriebenen Stoff in der halben Zeit bewältigen konnten. Damit konnte man als Lehrer
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