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Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Titel: Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sie verdient hat.«
    »Was meinst du?«, fragte Jolly. Sie verzichtete darauf, ihn förmlich anzusprechen. Nach all dem, was sie durchgemacht hatten, war Höflichkeit bedeutungslos geworden.
    »Ich kann ihr eine andere Art von Leben geben. Eines, das niemals endet.« Der Geisterhändler senkte seine Stimme zu einem eindringlichen Raunen. »Ein Leben als Geschichte.«
    »Und was heißt das?« Jolly blieb misstrauisch, während Munk nur schweigend seine Mutter ansah.
    »Sie wird weiterexistieren, nicht als Mensch, nicht in einem Körper, sondern als etwas, das die Leute sich weitererzählen, von einer Generation zur nächsten.« Er beugte sich vor und strich der Sterbenden eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich kann sie zu einer Legende machen, zu einem wunderschönen Märchen oder einem neuen Mythos.«
    Jolly blickte kopfschüttelnd zu Boden, schwieg aber aus Rücksicht auf Munk.
    »Munk?« Der Geisterhändler berührte ihn am Arm.
    »Ich werde es nur tun, wenn du einverstanden bist.«
    Der Junge betrachtete das Gesicht seiner Mutter und hielt dabei ihre blutleeren Hände. Sie hatten ihre Wunden verbunden, doch dabei war ihnen klar gewesen, dass es keine Rettung für sie gab. Sie lag bereits in tiefer Bewusstlosigkeit, ihr Atem setzte immer häufiger aus.
    »Munk«, sagte der Händler eindringlich, »ich kann es nur tun, solange noch Leben in ihr ist.«
    Jolly presste die Lippen aufeinander. Sie wusste nicht, welchen Rat sie Munk geben konnte und ob er überhaupt Wert darauf legte. Sie traute dem Geisterhändler nicht, trotz der Hilfe durch seine beiden Vögel. Dennoch konnte sie nicht ausschließen, dass er die Wahrheit sagte.
    »Tu, was du kannst«, flüsterte Munk, ohne irgendwen außer seiner Mutter anzusehen. Jetzt füllten sich seine Augen doch noch mit Tränen, aber sein Tonfall war so hart und entschlossen, dass Jolly eine Gänsehaut bekam.
    Der Geisterhändler nickte. »Du kannst ihre Hand halten, wenn du möchtest.«
    Munk beugte sich vor, umarmte seine Mutter ein letztes Mal und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Als er sich wieder aufsetzte, war ihre Wange feucht von seinen Tränen.
    Etwas in den Zügen des Geisterhändlers zerschmolz, als käme unter seinem Gesicht mit einem Mal ein ganz anderer zum Vorschein. Die vielen Falten, die von seinen Augen und Mundwinkeln ausstrahlten, glätteten sich, aber er wirkte dabei nicht jünger - nur makelloser, übermenschlicher. Sein eines Auge schimmerte, als hätte es sich in polierten Marmor verwandelt. Sein ganzes Antlitz erstrahlte vor Macht.
    »Ich mache dich zu einer Geschichte«, sagte er leise zu der sterbenden Frau, als könnte sie jedes seiner Worte verstehen. »Du wirst eine Geschichte sein, in der junge Mädchen mächtigen Magiern begegnen und arme Schlucker wagemutigen Prinzessinnen. In der sich das Schicksal mal in diese, mal in jene Richtung wendet und dabei über den Fortgang einer Welt entscheidet. In der Türen an Orten sind, wo keiner sie vermutet, und Fenster überall. Und in der die alten Götter über die Erde wandern, so wie sie es heute noch gelegentlich tun.«
    Munks Mutter atmete zum letzten Mal. Dann entwich die Luft aus ihr mit einem sanften Seufzer, ihr Gesicht entspannte sich, und Jolly kam es mit einem Mal vor, als wären sie alle Teil jener Geschichte geworden, die der Geisterhändler heraufbeschworen hatte: Als wären auch sie nun legendäre Helden, von denen man sich noch in Jahrhunderten erzählen würde; als gäbe es auch in ihrem Leben ein Ziel, von dem sie bislang nicht einmal geträumt hatten, das aber unausweichlich jenseits des Horizonts auf sie wartete.
    »Sie wird von Mund zu Mund weiterleben«, sagte der Geisterhändler, »und eines Tages wird man sie vielleicht aufschreiben, damit sie nie in Vergessenheit gerät.«
    Er strich der Toten ein letztes Mal über das Haar.
    »Reise wohl und spende Trost und Glück und Trauer. Reise wohl und währe ewig.«
    Mit diesen Worten erhob er sich und verließ das Haus. Jolly blickte von der Toten zu Munk auf. Er faltete die Hände seiner Mutter über ihrer Brust.
    »Wir begraben sie gemeinsam«, sagte er mit spröder Stimme. »Beide in einem Grab. Sie hätten es so gewollt.«

Meer der Dunkelheit

    Noch in derselben Nacht bat der Geisterhändler Jolly und Munk zu sich. Sie waren schon vor mehreren Stunden zum Geisterschiff zurückgekehrt und gleich nach ihrer Ankunft in See gestochen. Jetzt glitten Nebel und Schiff durch die Dunkelheit.
    Jolly brannten eine Unzahl von Fragen auf der Seele,

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