Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
aber sie ahnte, dass der Geisterhändler sich nicht drängen lassen würde. Vorerst reichte ihr, dass er eingewilligt hatte, sie fortzubringen, zurück in ihre Welt, dorthin, wo sie die Ereignisse auf der Insel vergessen konnten und mit ihren Nachforschungen über Bannons Schicksal beginnen konnte. New Providence war auch Bannons ursprüngliches Ziel gewesen. Zudem war es Sitz des Piratenkaisers Kenndrick, und wenn jemand etwas über den Verrat an der Maddy wissen konnte, dann der Anführer der Freibeuter und Korsaren.
Der Geisterhändler hatte auf einer der Stufen Platz genommen, die zur Brücke hinaufführten, gleich neben einer schaukelnden Öllampe. Bei jeder Bewegung des Schiffes schwang sie auf sein Gesicht zu, dann wieder fort; dabei tauchte sie seine kantigen Züge für Sekunden in glosenden Feuerschein. Die Augen der Papageien auf seinen Schultern schimmerten wie Halbedelsteine.
Zu beiden Seiten der Reling herrschte undurchdringliche Finsternis. Der Nebelring rund um das Schiff machte die Nacht noch dunkler, umhüllte sie mit tiefem, sattem Schwarz. Nur hoch über den Masten zeigten sich in einem runden Ausschnitt des Nachthimmels die Sterne. Selbst sie schienen ferner als sonst.
Außer dem Knarren der Planken und dem Ächzen der morschen Takelage herrschte Stille, selbst das Plätschern des Kielwassers war verstummt. Der Nebel schien das Schiff wie auf einer Wolke durch die Nacht zu tragen, sie spürten kaum, dass sie sich vorwärts bewegten.
Munk hatte kaum ein Wort gesprochen, seit sie die Insel verlassen hatten. Seine Tränen waren getrocknet, aber er war nur äußerlich gefasst. Er hatte den Blick starr in die dunkle Nacht gerichtet, und auch als der Geisterhändler zu sprechen begann, wandte Munk sich ihm nicht zu.
»Der Acherus«, sagte der Einäugige, »ist ein Wesen des Mare Tenebrosum. Wenige haben bisher einen wie ihn gesehen, und wenn doch, dann geschah das vor langer, langer Zeit, als die Mächte des Mahlstroms schon einmal versucht haben, die Welt unter ihre Herrschaft zu zwingen.«
»Was bedeutet das - Mare Tenebrosum?«, fragte Jolly.
»,Meer der Dunkelheit’. Manchmal zeigt es sich an Orten, an denen niemand damit rechnet. Dann entstehen Unwetter, wo keine sein dürften, Schiffe zerschellen, obwohl es dort keine Riffs oder Sandbänke gibt, und immer kommen Menschen dabei ums Leben, verschluckt von etwas, das unendlich tiefer ist als die ausgebrannten Feuerkrater am Meeresgrund und schwärzer als die Orte, zu denen kein Licht reicht. Das Mare Tenebrosum ist eine See, die keine Grenzen kennt, in der es kein Land gibt und deren Lebewesen mit keinen zu vergleichen sind, die sich hier bei uns zeigen.«
Jolly und Munk wechselten einen verständnislosen Blick. »Hier bei uns?«, fragte Jolly. »Also ist dieses Meer, von dem du sprichst, anderswo?«
Der Geisterhändler nickte. »An einem Ort, den für gewöhnlich keiner von uns erreichen kann, in einer Welt, die gleich neben der unseren liegt. Sie ist durch Grenzen von uns getrennt, die gewöhnliche Sterbliche und nicht einmal die Götter überwinden können. Zumindest nicht die Götter dieser Welt.«
»Und was ist mit den Göttern von dort drüben?«, fragte Munk mit spröder Stimme.
Jolly, die weder an einen noch an mehrere Götter glaubte, erschien diese Frage absonderlich. Aber vielleicht versuchte Munk nur, sich von seiner Trauer abzulenken. Sie fand das sehr tapfer. Wenn sie an Bannon und die anderen dachte, durchzuckte sie ein heftiger Stich, gefolgt von einem Augenblick tiefer Verzweiflung. Trotzdem blieb ihr immer noch die Hoffnung, die Männer irgendwann zu finden. Oder zumindest den Verräter, der sie in die heimtückische Falle gelockt hatte. Wenn der Verlust sie allzu sehr schmerzte, konnte sie sich an diesem Gedanken festklammern. Munk dagegen hatte seine Eltern mit eigenen Händen begraben. Es würde kein Wiedersehen geben.
»Ich weiß nicht, ob es Götter sind oder Sterbliche, die aus dem Mare Tenebrosum herüberdrängen«, sagte der Geisterhändler. »Schon früher, ganz selten nur, sind Risse in der Wand zwischen den Welten entstanden. Dann schwappte ein wenig des Mare Tenebrosum zu uns herüber wie aus einem übervollen Topf. Das sind die unerklärlichen Katastrophen auf hoher See, von denen man manchmal hört und von denen ich vorhin gesprochen habe: die verschwundenen Schiffe, die entsetzlichen Orkane und Sturmfluten, die schwarzen Nebel über dem Wasser, aus denen niemand zurückkehrt. Meist schließen sich diese
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