Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
Risse so rasch, dass nichts Lebendiges durch sie zu uns gelangen kann.«
»Aber der Acherus ist doch etwas Lebendiges. Oder zumindest etwas Vergleichbares«, sagte Jolly.
Der Geisterhändler nickte traurig. »Du hast Recht. Die Mächte des Mare Tenebrosum wollen sich nicht länger mit dem Wasser zufrieden geben, sondern endlich auch Land erobern - Land, das es in ihrer Welt nicht gibt. Sie haben ein Tor zu unserer Welt erschaffen: einen mächtigen Mahlstrom, größer als jeder, den ihr euch vorstellen könnt, mehrere Meilen an seiner breitesten Stelle und so tief wie der Meeresgrund. Ein Mahlstrom mit einer scharfen, dunklen Intelligenz.«
Er machte eine Pause, um das Bild, das seine Worte heraufbeschworen, einsickern zu lassen. »Wenn er sich öffnet - und ich bete, dass es noch nicht so weit ist -, saugt er alles, das in seinen Bann gerät, gnadenlos in den Abgrund, in die Dunkelheit seiner Welt. Im Moment noch hat er seine Richtung geändert und speit Vorboten aus der Tiefe zu uns ans Tageslicht, manchmal Fische und Untiere, und manchmal Kreaturen wie -«
»Wie den Acherus«, sagte Jolly tonlos.
»Allerdings.«
»Warum hat er…«, begann Munk, stockte und verstummte für einen Augenblick. Schließlich bekam er seine Gefühle wieder in den Griff. »Weshalb hat er meine Eltern getötet?«
»Er war nicht hinter ihnen her«, sagte der Geisterhändler und sprach damit Jollys Befürchtung aus, »sondern hinter euch.«
»Aber warum?«
»Ahnt ihr das nicht?«
»Weil wir Quappen sind«, sagte Jolly einer Eingebung folgend.
Der Geisterhändler nickte.
Munks Augen verengten sich vor Wut. »Aber was will er von uns? Warum wollte er uns umbringen?«
Eine Weile lang sagte niemand ein Wort. Die Öllampe schaukelte vor und zurück, und bei jeder Bewegung erhellte sie die Züge des Geisterhändlers, bevor sie wieder im Dunkeln verschwanden. Hell, dunkel. Hell, dunkel.
»Ich bin nicht sicher, ob er euch wirklich töten wollte«, sagte er schließlich.
»Was sonst?«, fragte Jolly. »Entführen?«
»Womöglich.«
Sie war nicht zufrieden mit dieser Antwort, so wie sie den meisten Erklärungen des Geisterhändlers skeptisch gegenüberstand. Vielleicht sagte er die Wahrheit. Aber war das wirklich alles, was er wusste? Daran glaubte sie nicht eine Sekunde. Und wollte er sie tatsächlich nur vor diesem Mahlstrom schützen? Oder steckte etwas anderes dahinter? Seine Heimlichtuerei machte sie zornig, und noch wütender wurde sie, weil er es sich so deutlich anmerken ließ - als hielte er sie für dumme Kinder, die man mit ein paar Andeutungen abspeisen konnte.
Sie sah Munk an und erkannte, dass er das Gleiche dachte.
»Das ist nicht alles«, sagte sie an den Händler gewandt. »Wir haben ein Recht auf -«
»Auf die Wahrheit?«, unterbrach sie der Mann. »Das Mare Tenebrosum ist die Wahrheit. Genauso wie der Mahlstrom und der Acherus.«
Munks Augen verengten sich. »Wer bist du wirklich?«
»Nur einer, der die Seelen anderer verkauft.« Das klang so zweideutig, dass Jolly ihn am liebsten an den Schultern gepackt und geschüttelt hätte. Geister zu verkaufen war eine Sache; die Seelen Lebender eine andere. Hatten sie längst ihre eigenen Seelen verloren, nur weil sie sich mit ihm eingelassen hatten?
»Erzähl uns alles«, verlangte sie von ihm. »Alles, was du weißt.«
Der Geisterhändler wandte den Blick ab und schaute geradewegs in die Glut der schaukelnden Lampe. Wie auf ein stummes Kommando folgten auch die Blicke der Papageien dieser Bewegung.
Munks Stimme brach das Schweigen wie ein Donnerschlag, obwohl seine Wort ganz leise waren, fast geflüstert. »Meine Eltern sind tot. Welchen Preis hast du für dein Wissen gezahlt, Händler?«
Jollys Magen zog sich zusammen. Es war nicht lange her, da hatte Munk den Geisterhändler als seinen Freund bezeichnet. Nun aber schien er ihm die Schuld zu geben an dem, was geschehen war. Der aufgeregte, übersprudelnde Junge, als den Jolly ihn kennen gelernt hatte, war ein anderer geworden. Ernster, verschlossener, fast ein wenig unheimlich.
»Dieses Wissen ist gefährlich«, sagte der Händler, »und jeder, der es besitzt, hat teuer dafür bezahlt. Die einen durch Verlust, andere durch Verantwortung und einige wenige sogar durch Schuld, die sie auf sich nehmen mussten. Es ist immer schmerzhaft, über eine Schwelle zu treten. Neue Erfahrungen kommen selten als Geschenk.«
»Neue Erfahrungen?« Jollys Stimme hatte den Klang einer Ohrfeige. »Mir fallen da eine Menge
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