Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
stehen und starrte aus hundert blinden Fischaugen zu ihnen herüber, eine finstere Gestalt, so hoch wie vier Männer, mit knotigen Gliedern und viel zu vielen Gelenken. Er sah aus, als hätte man ihn dort aus Dreck und Abfall aufgetürmt, ein widerliches Zerrbild menschlichen Lebens.
Er schien zu überlegen. Um die Geister, die sich an ihn klammerten, kümmerte er sich nicht mehr. Die Papageien ließen von ihm ab und flogen über das Wasser auf Jolly und Munk zu.
»Bastard!«, raunte Munk und konzentrierte sich.
Wieder schloss er die Augen, breitete die Arme aus und wisperte den Geistern mit bebenden Lippen seine Befehle zu, ohne dass ein Laut aus seiner Kehle kam. Jolly fragte sich, ob jeder dazu in der Lage war oder ob es der besonderen Magie des Geisterhändlers bedurfte, die Befehlsgewalt über die Geister auf andere Menschen zu übertragen.
Der Acherus setzte einen Fuß ins Wasser.
»Er kommt!« Jolly ballte hilflos die Hände zu Fäusten und wippte auf den Wogen auf und nieder. »Du musst dich beeilen.« Wahrscheinlich war es ein Fehler, ihn zu drängen, doch erneut stieg Panik in ihr auf und überschattete jede Vernunft.
Munk ließ sich nicht beirren und stieß weiterhin stumme Befehle aus. Seine Augenlider bebten, sein Haar klebte schweißnass auf seiner Stirn. Jollys eigenes fühlte sich nicht besser an.
Bis zu den Knien watete der Acherus jetzt in die See. Immerhin, er konnte nicht über das Wasser gehen wie die beiden Quappen. Würde er auf sie zuschwimmen? Oder vom Meeresgrund aus zu ihnen emporstoßen?
Der Acherus verharrte erneut. Und nun geriet Bewegung in die wimmelnde Masse der Geister auf seinen Schultern, an seiner Brust und auf seinem Rücken. Jolly war zu weit entfernt, um die Einzelheiten zu erkennen, aber sie glaubte zu sehen, dass die Dunstwesen ihre Arme wie Klingen in den fauligen Leib des Acherus bohrten. Sie gaben sich nicht mehr damit zufrieden, an ihm zu zerren - jetzt gingen sie zum Angriff über. Munks Befehle taten ihre Wirkung.
Das Kreischen des Acherus ging Jolly durch Mark und Bein. Sogar das Meer schlug höhere Wellen. Sie brachten Jolly und Munk fast aus dem Gleichgewicht.
Munk schlug die Augen auf. »Geister können bestimmen, wann und wo sie an Festigkeit gewinnen, um etwas anzufassen oder zu tragen . Ich habe ihnen befohlen, durch den Acherus hindurchzugehen und dabei zu festen Körpern zu werden.«
Es war kein schöner Anblick, was mit der Kreatur geschah. Die Geister verschwanden in seinem massigen Inneren, das sich weiter und weiter aufblähte, je mehr von ihnen Gestalt annahmen. Sie waren jetzt nicht länger Nebelschwaden, sondern Körper aus . ja, was? Fleisch und Blut?
Es war nur eine Frage von Sekunden, ehe die Masse die Enge seines Leibes sprengte.
Jolly wandte den Blick ab, als die Schreie der Bestie erstarben. Als sie wieder zum Ufer sah, stoben die Geister auseinander. Auf den Wellen trieb ein zäher Teppich aus schwarzem Schlick und Algen. Ein entsetzlicher Gestank trieb über die See und schnürte Jolly die Kehle zu.
Die Papageien flogen über ihre Köpfe hinweg, weiter hinaus aufs Meer. Jolly drehte sich wie betäubt auf ihrem Absatz um.
Nebelarme griffen nach ihr, aber sie konnten nicht verhindern, dass Jolly vornüberfiel, erschöpft auf allen vieren aufkam und sich vor Entkräftung übergab. Aus dem Augenwinkel sah sie Munk niederkauern; er war noch geschwächter als sie.
Hugh und Moe stießen schrille Schreie aus, als sie in den Nebel tauchten.
Dann war auch um Jolly nur noch milchiges Weiß, als wäre die Luft auf einen Schlag zu Eis erstarrt.
»Sie wird sterben.« Der Geisterhändler saß auf der Kante des Bettes, auf das sie Munks Mutter niedergelegt hatten. »Sie hat bereits vergessen, dass sie noch am Leben ist.«
Munk brach nicht zusammen. Er weinte nicht einmal. Sein Gesicht war hart wie Glas. »Irgendwas muss man doch tun können.«
Der Händler schüttelte unter seiner Kapuze den Kopf.
Munk schwieg. Jolly schob ihre Hand über seine. Die Finger waren eiskalt. Sie hatte unendliches Mitleid mit ihm und spürte, wie Tränen in ihren Augen aufstiegen. Sie schämte sich nicht, als sie über ihre Wangen perlten.
»Es gibt eines, das ich für sie tun kann«, sagte der Händler.
Munks Gesichtsausdruck wurde noch abweisender, und seine Stimme hätte Stahl schneiden können.
»Willst du sie zu einem deiner Geister machen?«
»Ich spreche von etwas Besserem. Etwas Gutem.« Er machte eine kurze Pause, dann fügte er hinzu: »Etwas, das
Weitere Kostenlose Bücher