Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
unterwegs. Er lenkte sein Seepferd unter einem der Torbögen zur See hindurch und fegte dann mit ihm über das dunkle Wasser, vorbei an den lodernden Feuerflößen, die wie schwimmende Scheiterhaufen auf den Wogen wippten.
Die Nacht war warm wie meist um diese Jahreszeit in der Karibik. Doch die Schwüle des Tages hatte sich gelegt. Griffin fiel auf, wie viel leichter es war, zu dieser Stunde frei durchzuatmen. Trotz seiner Aufgabe, trotz der Sorge um Jolly überkam ihn ein unbändiges Gefühl von Freiheit. Er ritt zum ersten Mal ganz allein aus, und die Kraft des wundersamen Wesens unter ihm schien sich auf ihn zu übertragen. Er fühlte sich wie neugeboren.
Bevor er den Nebel erreichte und alles um ihn dunkel wurde, schaute er über die Schulter zurück zur Stadt und suchte den Turm, auf dem er noch vor wenigen Augenblicken mit d’Artois gestanden hatte. Aber er fand ihn nicht schnell genug. Schon verdeckten die ersten Schwaden seine Sicht, und dann wurde es auf einen Schlag so finster, dass ihn einen Moment lang Panik übermannte.
Der Nebel umfing ihn nicht mit Dunst und grauer Tristesse, sondern mit absoluter Schwärze. Kein Licht drang von der Stadt herüber, selbst der Schein der nahen Feuerflöße verglühte in seinem Rücken wie die Spitzen von herabgebrannten Kerzendochten. Die Schwärze gab ihm einen Vorgeschmack auf das, was Jolly bevorstand, wenn er sie zurück nach Aelenium brachte. Sie mochte dort unten mithilfe ihrer Quappenaugen sehen können, aber es änderte nichts daran, dass sie sich in der vollkommensten Dunkelheit befinden würde, die irgendwo auf der Welt zu finden war.
Mit der Schwärze drang die Angst durch seine Kleidung und legte sich um seinen Körper wie ein Panzer aus Eis. Es war noch keinen Tag her, dass die Soldaten im Nebel auf den Klabauterschwarm gestoßen waren. Jetzt, in dieser Finsternis, mochten sich dutzende, hunderte von ihnen herumtreiben, ohne dass irgendjemand sie entdecken würde. Gewiss spürten sie die Nähe des Seepferdes, folgten der mächtigen Schwanzflosse vielleicht aus der Tiefe mit ihren kleinen, tückischen Klabauteraugen.
»Schneller, Matador, schneller!«, trieb er das Tier vorwärts. Den Namen hatte ihm einer der Zuchtmeister Aeleniums gegeben. Griffin vermutete, dass der Mann spanische Vorfahren gehabt hatte, wie überhaupt die meisten Bewohner der Stadt Ahnen in der Alten Welt zu haben schienen. Auch das war eines der zahlreichen Paradoxe dieses Ortes: Wenn Aelenium tatsächlich seit Jahrhunderten, gar seit Jahrtausenden existierte, weshalb stammten seine Hüter dann aus Europa und nicht von den umliegenden Inseln?
Der Nebel nahm kein Ende. Blind umklammerte Griffin Matadors Zügel, und seine Schenkel hielten den Sattel so fest umschlungen, als hinge sein Leben davon ab. Zur Not würden ihn immer noch die Gurte halten, die beim Ritt auf den Hippocampen unabdingbar waren. Aber es fiel ihm schwer, zu irgendetwas Vertrauen zu haben. Selbst seiner eigenen Wahrnehmung misstraute er. Drang da nicht leises Geschnatter durch den Nebel, pfeifende, hohe Laute? War das Plätschern und Rauschen der Wogen um ihn herum nicht lauter und hektischer geworden? Und schob sich vor ihm nicht etwas Gigantisches, Formloses durch die Finsternis?
Zumindest der letzte Eindruck musste täuschen: Er konnte nichts sehen, nicht einmal die Hand vor Augen, geschweige denn riesenhafte Körper in der Ferne. Die Dunkelheit hatte ihm gewiss einen Streich gespielt.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, welches Vertrauen d’Artois in ihn setzte, dass er ihn allein und im Angesicht des näher rückenden Feindes auf eine solche Mission schickte. Zugleich aber kamen Griffin Zweifel. Hatte der Hauptmann ihn wirklich geschickt? Einen Befehl jedenfalls hatte er nicht ausgesprochen, und noch konnte sich alles als schreckliches, tödliches Missverständnis herausstellen. Vielleicht hatte er Griffin tatsächlich nur ablösen wollen, um nachzudenken. Womöglich glaubte er ja, Griffin läge längst im Bett, so, wie er es ihm angeraten hatte.
Das Seepferd stieß einen Pfeifton aus, das Alarmsignal für die Witterung von etwas Unbekanntem.
Griffin tätschelte mit bebenden Fingern den Hals des Tieres. »Was ist denn -?«
Er kam nicht dazu, seine Frage zu beenden. Etwas stieß von unten gegen das Pferd, hob es mit ungeheuerlicher Kraft aus dem Wasser und schleuderte es aus seiner Bahn. Das Fiepen des Tieres wurde lauter, brach dann für einen Augenblick ab, als es seitwärts in die Wogen stürzte. Die
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