Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
Nur noch zehn Schritt trennten sie von ihrem Ziel. Der Geisterhändler hatte es vorgezogen, in einiger Entfernung zurückzubleiben. Er spürte, dass die Insel vollständig in der Hand des Toten war.
Vor Soledads Augen schälten sich aus dem Flirren der Luft vage Formen, Bilder von Schiffen, von Schlachten und Trinkgelagen. Aber auch verzerrte Eindrücke von zerlumpten Kindern am Strand, von Männern in Uniform, Kerkerzellen, von lachenden und schreienden Frauen, von Feuer und Gold und Blut, das im Sand versickert. Nichts von alldem war wirklich, und als der Geisterhändler ihr zurief, dass es sich um Ereignisse aus dem Leben des Captain Santiago handeln müsse, war Soledad längst von selbst auf diese Idee gekommen.
Die Bilder erschienen in einer nicht nachvollziehbaren Reihenfolge, sie überlagerten und vermischten sich.
Erwachsene hatten plötzlich die Gesichter von Kindern, und umgekehrt. Kleider wechselten innerhalb eines Augenblicks. Schiffe wurden zu Festungen zu Wäldern zu Sümpfen zu Häfen. Alles hatte die Anmutung verrückter Träume, in denen sich Gesehenes und Eingebildetes zu einer Einheit verband, die längst vom Pfad der Vernunft abgekommen war.
Und da war Tod. Immer wieder Tod.
Flimmernde Gestalten brachen leblos zusammen, starben unter Säbelhieben, aufgeknüpft an Rahen, auf brennenden Schiffswracks und im Kugelhagel. Soledad hatte in ihrem Leben viele Menschen sterben sehen, im Kampf, am Alter und unter den Messern feiger Mörder. Doch diese Bilder übertrafen ihre Erfahrung um ein Vielfaches. Ob es sich um Tode handelte, die Santiago selbst mit angesehen hatte, oder ob es das Schicksal war, das er den Meuterern zugedacht hatte, blieb ungewiss. Eine unappetitliche Mischung aus beidem, vermutlich.
Walker trat näher an Soledad heran und ergriff ihre rechte Hand. Sie zuckte kurz zusammen, zog die Finger aber nicht zurück.
»Ich kenne ein paar von denen«, sagte er, während die Visionen um sie herum mit jedem Augenblick schrecklicher und blutrünstiger wurden.
»Sie sehen selbst alle aus wie Geister«, sagte Soledad gebannt.
Jetzt kam auch der Geisterhändler näher. »Das täuscht«, erklärte er und blieb als Einziger gelassen.
»Das sind nur Träume und Wünsche und Erinnerungen aus Santiagos verwirrtem Verstand. Kein Grund, sich vor ihnen zu fürchten - jedenfalls solange sie euch nicht folgen.«
Walkers Miene flackerte nervös. Er fasste Soledads Hand ein wenig fester. »Folgen? Was genau meinst du damit?«
»Wenn man sich den Bildern zu lange aussetzt, kann es passieren, dass sie sich in einem einnisten. Dann nimmt man sie von hier mit, und sie verfolgen einen ein ganzes Leben lang.«
Soledad und Walker wechselten einen viel sagenden Blick. »Und wie lang genau ist zu lange?«, fragte die Prinzessin.
»Das weiß man erst, wenn es zu spät ist.«
Walker beugte sich an Soledads Ohr. »Ich hab gewusst, dass er so was sagen würde.«
Sie nickte sorgenvoll.
Der Händler griff unter sein Gewand und holte den Silberreif hervor, der ihm Macht über die Geisterwelt verlieh. Das einfach gearbeitete Schmuckstück hatte den Durchmesser eines Tellers und sah wie etwas aus, womit sonst Gaukler billige Kunststücke vorführten.
Der Händler hielt den Reif waagerecht und ließ die Fingerspitzen der rechten Hand darüber kreisen. Dabei schloss er sein eines Auge, murmelte etwas vor sich hin und verstummte wieder. Sein Auge blieb geschlossen, er rührte sich nicht.
»Was tut er da?«, flüsterte Walker.
Soledad zuckte die Achseln. »Etwas ungeheuer Mächtiges.«
»Falsch«, erwiderte der Händler. »Ich konzentriere mich auf den Moskitostich an meiner linken Ferse, damit er aufhört zu jucken.«
»Ah«, machte Walker und nickte ernst.
»Moskitostich?«, wiederholte Soledad.
»Ich kann keine Geister fangen, wenn mein Fuß juckt.
Ich bitte um etwas mehr Verständnis.«
»Sicher doch«, sagte Walker boshaft.
Soledad schüttelte fassungslos den Kopf.
»So, jetzt«, verkündete der Händler und atmete tief durch. »Ich fange an.«
»Gute Idee«, murmelte der Captain.
Wieder strich der Händler mit den Fingern über den Silberreif. Die Bilder aus Santiagos wahnsinnigem Verstand rückten näher an sie heran und zogen sich zu einem Kokon aus Vergangenheit und möglicher Zukunft um sie zusammen. Soledad kämpfte gegen den Drang an, den Hieben und Schlägen der flirrenden Gestalten auszuweichen, aber es gelang ihr nicht. Sie schloss die Augen und hoffte, die entsetzlichen Bilder auf diese
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