Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
spät. Die Wogen erfassten Seepferd und Reiter, und diesmal hielten die Sattelgurte nicht stand. Wassermassen spülten über Griffin hinweg, eine Wand aus salzigem Schaum. Dann pressten unsichtbare Hände ihn unter die Oberfläche. Plötzlich war er allein, ohne das Seepferd, das ihn in Sicherheit hätte tragen können.
Jolly!, durchfuhr es ihn in der Finsternis, und er begriff, dass er sterben würde, dass er, wenn er nicht ertrank, von diesem Ding, diesem lebenden Berg aus Dunkelheit verschlungen werden würde.
Dieselben Kräfte, die ihn eben unter Wasser gepresst hatten, schienen ihn jetzt wieder nach oben zu zerren. Sein Gesicht durchbrach die Meeresoberfläche, er schnappte nach Luft, sog dabei abermals Wasser ein und drohte jetzt trotz der klaren Nachtluft zu ersticken. Seine nasse Uniform zog ihn in die Tiefe, aber er strampelte so heftig mit den Beinen, dass er sich an der Oberfläche halten konnte. Hustend riss er die Augen auf, sah keinen Horizont mehr, keinen Himmel, wieder nur Schwärze, aber diesmal so massiv wie eine Insel, die unverhofft vor ihm aufgetaucht war.
Doch es war keine Insel. Und ganz sicher verhieß der riesenhafte Umriss vor den Sternen keine Rettung.
Eine neue Strömung erfasste ihn, ein mächtiger Sog, der ihn mit Wassermassen vorwärts riss, als hätte sich ein Loch aufgetan, das ihn und die ganze Karibische See verschlang.
Der Mahlstrom!, dachte er.
Aber, nein, es war nicht der Mahlstrom.
Es war ein Schlund so groß wie ein Kirchenportal, ein stinkendes, glitzerndes Inferno aus Fleisch und Hitze und Reihen heller Zähne. Griffin spürte, wie die scharfen Spitzen seine Uniform zerfetzten, als er mit dem Rücken darüber hinweggespült wurde. Dann wurde er gegen eine weiche, warme Wand geworfen, in neue Finsternis, glitt weiter, bekam keine Luft mehr und sauste durch einen Tunnel abwärts, seitwärts, vorwärts.
Es hat mich gefressen!, dachte er noch, ehe die Gewissheit dieses Schicksals jeden weiteren Gedanken auslöschte.
Hinter ihm schlossen sich die gigantischen Kiefer, der Sog verebbte. Die Bestie, die Griffin verschlungen hatte, tauchte hinab in die Tiefen des Ozeans.
Der Geist im Fass
Manche legenden erzählen erfundene Geschichten, die trotzdem wahr sind. Andere wiederum lügen nur, wenn jene, die sie hören, die Ohren vor der Wahrheit verschließen. Und manche Geschichten - mögen sie noch so unwahrscheinlich, noch so verrückt und abwegig erscheinen - malen ein Bild von der Wirklichkeit, das diese an Schärfe und Wahrhaftigkeit um ein Vielfaches übertrifft.
Die Geschichte von Santiago und seinem Tod im Fass war nicht frei erfunden. Aber sie war innerhalb weniger Monate weit über ein simples Gerücht hinausgewachsen, hundertfach nacherzählt, übertrieben und ausgeschmückt.
Und doch übertraf in diesem Fall die Wirklichkeit alle Erzählungen: Es war das verrückteste, makaberste und schlichtweg irrwitzigste Bild, das Soledad in all den Jahren als Tochter eines Piratenkaisers untergekommen war.
Vordergründig waren es nur ein weiter Sandstrand, ein großes Fass und ein Paar Stiefel, das aus dem Fass herausragte. Gesehen und gefühlt aber war es ein Anblick, der sich so tief in Soledads Gedächtnis einbrannte, dass sie ihn nie vergessen sollte.
Es war nicht nur das Bild selbst, das sie so tief beeindruckte. Da war noch mehr. In der Verlassenheit des Eilands, zwischen den baumlosen Sandbuckeln war Santiagos Geist so spürbar wie eine Ozeanbrise, die aufkommt und wieder abflaut.
»Ihr fühlt ihn auch, nicht wahr?« Die Stimme des Geisterhändlers durchbrach als erste das Schweigen, das sie sich bei ihrer Ankunft vor der Insel auferlegt hatten.
Soledad und Walker nickten gleichzeitig.
»Noch nie ist auf dieser Insel irgendein anderer Mensch gestorben«, sagte der Händler mit gerunzelter Stirn. »Für einen Geist muss diese Einsamkeit tausendmal schwerer zu ertragen sein als für einen lebendigen Menschen.«
Soledad nickte erneut, als wüsste sie genau, wovon der Händler sprach. Sie konnte das Gefühl der Abgeschiedenheit und Verwirrung, das die ganze Insel umgab, fast auf ihren Lippen schmecken.
Die Seepferde bewegten sich in dem niedrigen Wasser beinahe im Schritttempo. Sie gaben Acht, mit ihren empfindlichen Schwanzflossen nicht den Grund zu berühren. Schließlich verharrten sie, und die drei Reiter mussten den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen.
Die Luft über dem Sand schien zu verschwimmen, als Soledad den Strand erreichte und sich dem Fass zuwandte.
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