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Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Titel: Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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verlieren.
    »Was willst du von mir?«, schrie sie hinaus in die tosende See.
    Niemand gab ihr eine Antwort. Was hatte sie auch erwartet? Eine körperlose Stimme, die zu ihr sprach? Ein Meeresungeheuer, das sein hässliches Haupt hob und mit ihr redete?
    Nur Schwärze. Nur der endlose Ozean.
    »Sag, was du willst, oder lass mich in Frieden!«, rief sie und hielt das Steuer dabei so fest umklammert, als wäre es ihr letzter Halt in der Wirklichkeit.
    Backbord tat sich etwas in der Ferne. Sie konnte nicht sagen, wie weit die Stelle entfernt lag, denn alle Schätzungen wurden hinfallig in der Überdeutlichkeit der Umgebung. Es mochten zehn Meilen sein oder hundert.
    Die öligen Wogen des Mare Tenebrosum gerieten dort in hektische Bewegung, als bildeten abermillionen der schwarzen Gischtkrebse auf den Wellenkämmen eine bestimmte Form. Das Gewimmel und Getümmel wurde zu etwas, das annähernd menschlichen Zügen glich, mehrere Meilen hoch und ebenso breit, wie aufgespannt über dem Ozean.
    Es war ihr eigenes Gesicht.
    Sie war nicht sicher, woran sie es erkannte, denn sie blickte in einem seltsamen Winkel darüber hinweg, über Kinn und Lippen, den turmhohen Berg der Nasenspitze, an den Wangenknochen entlang zu den Augenbrauen und der Stirn. Es hätten die Züge jedes beliebigen Menschen sein können. Doch Jolly war sicher: Das Mare Tenebrosum trat ihr als ihr Ebenbild entgegen, geformt aus dem Wasser des Urozeans.
    Die Lippenhügel bewegten sich, als wollten sie sprechen, doch es waren nur das Rauschen der See und das Flattern der Segel zu hören. Vereinzelte Blitze zuckten durch die Finsternis, in der Takelage flackerten blauweiße Feuerzungen.
    »Was willst du?«, schrie Jolly abermals in die Ferne.
    Der riesenhafte Mund öffnete und schloss sich schneller und schneller, ehe er in einer Eruption aus schwarzem Wasser explodierte. Eine haushohe Flutwelle rollte auf die Carfax zu, verebbte aber, bevor sie das Schiff erreichte. Die Entfernung musste viel weiter sein, als Jolly angenommen hatte - und das Gesicht unfassbar größer. Dort, wo es sich eben noch befunden hatte, bildete sich jetzt ein Strudel, erst langsam, fast träge, dann immer schneller, bis er einen rotierenden Abgrund bildete, der sich rasch in alle Richtungen ausdehnte.
    Der gigantische Strudel hatte bald einen Durchmesser von vielen Meilen. Nun schien er sogar die Blitze vom Himmel anzusaugen, denn immer mehr verästelte Lichtarme zuckten in den tobenden Schlund hinab.
    Die Carfax aber lag unangetastet im Wasser, schaukelnd, knirschend, stöhnend zwar, aber ohne in den teuflischen Sog zu geraten. Das war der letzte Beweis. Nun war Jolly sicher, dass die einzige Gefahr hier ihrem Verstand drohte, nicht ihrem Körper - und dass sie dem allen hier aus eigener Kraft ein Ende setzen konnte. Sie musste es nur wollen, sie musste daran glauben.
    »Es reicht«, flüsterte sie und schrie es dann entschlossen hinaus in die Dunkelheit: »Es reicht!«
    Die Vision verging, zog sich für einen Augenblick zu einem schwarzen Kern inmitten des Schlunds zusammen und zerriss dann in tausend Fetzen, die wie Nebelschwaden im Sonnenschein verpufften. Licht floss aus allen vier Himmelsrichtungen auf Jolly zu und traf sie wie eine Feuerwalze. Sie schrie auf, vor Schreck, aber auch vor Erleichterung, dann glitt sie langsam zu Boden.
    Das Letzte, was sie wahrnahm, war eine Hundeschnauze, die sich über sie beugte, das Gesicht eines Pitbulls. Dann eine Stimme.
    »Ach du liebe Güte«, jammerte der Hexhermetische Holzwurm, doch falls er einen seiner schauderhaften Reime darauf fand, so hörte sie ihn nicht mehr.
    »Wenn Walker hier wäre, würde er dir den Hals umdrehen«, sagte Buenaventure und blickte sich zu ihr um.
    Jolly kauerte vor der Reling auf der Brücke, nur drei Schritt vom Steuer entfernt, das der Pitbullmann mit seinen behaarten Pranken mühelos auf Kurs hielt. Der Hexhermetische Holzwurm schaute mit seinem Kopfschild aus Buenaventures Rucksack, der neben ihr an der Brüstung lehnte. Er war erstaunlich schweigsam. Seit sie die Augen wieder aufgeschlagen hatte, hatte er kaum zwei Sätze gesagt, und die waren weder gereimt noch übermäßig bissig gewesen.
    »Ihr seid die ganze Zeit an Bord gewesen?«, fragte sie fassungslos.
    »Nein«, neckte Buenaventure sie und verzog die Lefzen zu einem Grinsen. »Ich bin gut im Rückenschwimmen, weißt du?«
    »Ich kann’s nicht glauben.« Sie schüttelte den Kopf.
    »Ihr wart die ganze Zeit unter Deck, während ich hier oben…«

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