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Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Titel: Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sie ihn nicht mehr gesehen. Umso schmerzlicher aber war ihr bewusst geworden, wie viel er ihr bedeutete. Und nun hatte sie ihn ohne ein Wort in Aelenium zurückgelassen. Ohne Abschied, ohne Erklärung. War es tatsächlich die Tatsache gewesen, dass sie geglaubt hatte, ihre Suche nach Bannon allein erledigen zu müssen? Oder war sie einfach zu stolz gewesen?
    Sie vermisste Griffin mehr, als sie je für möglich gehalten hätte. Vermisste seine Sticheleien, an denen meistens auch etwas Wahres war, sein Lachen und die Sorge, die er um sie empfand. Sie dachte an die Tätowierung auf ihrer Haut und an das, was er gesagt hatte, bevor Munk in der Tür stand. Wenn sie die Augen schloss, dann konnte sie spüren, wie seine Fingerspitzen über das Bild auf ihrem Rücken strichen, so, als wäre die Berührung innerhalb eines Musters gefangen und streiche sanft zwischen den Rändern der Koralle umher.
    Jolly riss sich zusammen und zwang sich, ihre Konzentration auf die Carfax und die See vor sich zu richten. Graue Wolken bedeckten den Himmel, nur vereinzelt brachen die Sonnenstrahlen durch den Dunst und standen als leuchtende Säulen über der See. Der Atlantik war aufgewühlt bis zum Horizont und bot sich in Schattierungen tückischer Schönheit dar: Farbschollen aus Grau, Silber und Eisblau lagen scharf abgegrenzt nebeneinander und kündeten von launischen Windverhältnissen und wechselhaftem Seegang.
    Jolly und das Steuer schienen in all den Stunden miteinander verwachsen zu sein, als hielten sie sich gegenseitig aufrecht. Immer öfter spürte sie, wie sich ihre Sicht trübte und ihre Gedanken auf eine Art und Weise abschweiften, die sie nur aus den Minuten kurz vor dem Einschlafen kannte: Momente, in denen sich Wirklichkeit und Einbildung miteinander vermischten und beide gleichermaßen plausibel wurden. Sie glaubte, mit anzusehen, wie sich das Meer um sie herum schwarz färbte, mit Schaumkronen aus winzigen Lebewesen. Aber ihre Sinne waren nicht mehr wach genug, um zu erkennen, dass sie dieses Bild schon einmal gesehen hatte, am Ende einer Brücke, im Abgrund zwischen den Welten.
    Die Sonne hätte eigentlich höher steigen müssen, doch aus unerfindlichen Gründen wurde es dunkler. Die gleißenden Lichtsäulen, die vorhin noch den Wolkenhimmel abgestützt hatten, wurden dünner und verschwanden schließlich ganz. Die Finsternis senkte sich mit einem Schlag auf die Carfax herab. Am helllichten Vormittag wurde es abermals Nacht.
    Der Wind wurde nicht stärker, doch der Rumpf knirschte jetzt, als wäre da etwas im pechschwarzen, tranigen Wasser, das ihn von allen Seiten zusammendrückte. Jollys Kopf sackte nach vorne, aber ihre Finger waren so fest um die Griffe des Steuers gekrallt, dass sie aufrecht stehen blieb. Das schwarze Haar fiel ihr in die Stirn und kitzelte ihre Nasenspitze. Sie schrak auf, war plötzlich wieder wach, aber die Dunkelheit blieb bestehen, und die Wellen waren kein Wasser mehr, sondern etwas, das Eigenleben besaß. Die Gischt, die zu beiden Seiten des Schiffs über die Reling spritzte, löste sich auf den Planken nicht auf, sondern formierte sich an Deck zu Zügen schillernder Krebse, klein wie Wasserflöhe, aber es waren tausende und abertausende, die dort immer neue Anordnungen bildeten: Sterne, quallige Flecken und netzartige, pulsierende Muster.
    Das Mare Tenebrosum ist zu mir gekommen, dachte sie verblüffend sachlich, und sie wiederholte den Satz innerlich, bis er ganz logisch klang, ganz selbstverständlich: Es ist zu mir gekommen.
    Dasselbe war früher schon passiert, und jedes Mal hatte das Mare Tenebrosum die Schiffe verschlungen, die ihm begegnet waren. Aber Jolly hatte keine Angst. Jetzt nicht mehr. Das Mare Tenebrosum war gekommen, weil es etwas von ihr wollte. Sie bezweifelte, dass es im Augenblick in seiner Macht stand, sie zu töten. Andere, die nicht mit dem Anblick des Mare vertraut waren, mochten durch diese fremdartige, schwer zu begreifende Unwirklichkeit in Panik verfallen und ihr Schiff in den Untergang führen. Jolly aber sah das Nachtmeer nicht zum ersten Mal, und obwohl sie bis ins Mark erschrak, brachte es sie doch nicht gänzlich aus der Fassung.
    Und wieder war da dasselbe Phänomen wie auf Agostinis Brücke: Die Wasseroberfläche schien sich bis ins Unendliche fortzusetzen, ohne dabei an Schärfe zu verlieren. Nicht der Horizont bildete die Grenze, sondern allein Jollys Sehkraft. Zuletzt musste sie den Blick abwenden, um sich nicht gänzlich in dieser Unendlichkeit zu

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