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Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Titel: Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Geist, der dort Wache gehalten hatte, zurück an Deck. Als verschwommener Nebelfetzen zischte er abwärts und nahm erst unten wieder die vage Gestalt eines Menschen an.
    Jolly ließ sich den Wind um die Nase wehen. Ihr schwarzes Haar tanzte auf der kräftigen Brise wie die Piratenflagge, der sie ihren Namen verdankte. Die Wellen sahen von hier oben klein und harmlos aus, und obwohl das Schiff noch immer beträchtlich schwankte, war die See doch ruhiger geworden. Wie ein zerkratzter Spiegel erstreckte sie sich endlos in alle Richtungen, flimmernd im Sonnenschein. Nirgends war Land in Sicht. Die Carfax würde wohl noch drei oder vier Tage unterwegs sein, ehe die bewaldeten Urwaldufer des Orinoco-Deltas am Horizont auftauchten.
    Jolly hielt sich mit einer Hand an der Mastspitze fest. Über ihr wehte die englische Flagge im Wind - das übliche Täuschungsmanöver. Die Totenkopfflagge, das Symbol der Freibeuter, wurde nur bei Angriffen oder Zusammenkünften der Piraten gehisst.
    Sie hielt die Knie locker, um das Schaukeln des Schiffs auszugleichen. Es fiel ihr nicht schwer, da sich ihre Beine noch immer ein wenig wackelig anfühlten. Die Begegnung mit dem Mare Tenebrosum hatte sie mehr mitgenommen, als sie sich eingestehen wollte. Es ärgerte sie, dass sie so angreifbar war, anfällig für die Heimsuchungen ihrer Feinde. Andererseits konnte ihr im Augenblick nicht einmal das die Laune verderben. Sie war endlich auf dem Weg zu Bannon. Sie hatte nie darüber nachgedacht, ob er für sie tatsächlich eine Art Vater gewesen war - sie wusste ja nicht, wie es sich anfühlte, einen Vater zu haben. Er war eben Bannon, der Captain ihrer Mannschaft und einer der ausgebufftesten Seeräuber der Karibischen See. Er hatte ihr alles beigebracht, was sie wusste - über das Meer, die Menschen und die Kunst der Kaperfahrt. Sie liebte ihn so, so wie andere Kinder ihre Eltern liebten, das war sicher.
    Und sie vermisste ihn.
    Vorsichtig zog sie das Kästchen mit der toten Spinne aus ihrer Tasche, warf einen letzten Blick hinein und ließ den Deckel wieder zuschnappen. Der hässliche Kadaver hatte sie auf einem langen Weg begleitet, vom Untergang der Mageren Maddy, durch die Flammenhölle im Hafen von New Providence, über Tortuga nach Aelenium und nun sogar darüber hinaus.
    Jetzt hatte der haarige Leichnam seinen Zweck erfüllt: Er hatte sie auf die Spur zum Orinoco gebracht. Und sie war in den Ausguck gestiegen, um das Kästchen von hier aus ins Meer zu schleudern - eine Art Bestattung und zugleich ein weiterer Einschnitt in ihrem Leben. Bis vor wenigen Tagen hatte sich ihr Schicksal ganz nach dem Plan des Geisterhändlers entfaltet. Nun jedoch hatte sie es selbst in die Hand genommen, und es war an der Zeit, sich auch von diesem Überbleibsel ihrer Vergangenheit zu trennen.
    Sie streckte den Arm zum Wurf aus, als sie spürte, wie sich etwas auf ihrer Schulter niederließ. Krallen schlugen in ihre Haut. Ein heftiges Flattern war mit einem Mal neben ihrem Ohr.
    Erschrocken wirbelte sie herum und ließ das Kästchen fallen. Es prallte neben ihrem Fuß auf den Boden des Krähennests. Mit einem Aufschrei holte sie aus. Sie konnte den Hieb gerade noch zurückhalten, als sie erkannte, was sich in ihren Arm verkrallt hatte.
    »Moe!«, rief sie überrascht aus.
    Der schwarze Papagei des Geisterhändlers lief mit gestelzten Vogelschritten auf ihrem Arm entlang, bis er sich wieder in einer aufrechten Position befand. Seine blutroten Augen suchten ihren Blick, als versuchte er, ihr allein durch seinen Blick eine Nachricht zu übermitteln.
    »Ist Hugh auch hier?« Sie schaute sich suchend um und fand den zweiten Vogel auf dem Fockmast. Auch er sah reglos zu ihr herüber.
    Sie erinnerte sich daran, die beiden in Aelenium am Pier gesehen zu haben. Während ihres Streits mit Munk waren sie über das Schiff geflogen und hatten sich auf einer der Rahen niedergelassen. Danach jedoch hatte sie die Papageien völlig vergessen. Waren sie die ganze Fahrt über an Bord gewesen? Dann hätte sie sie eigentlich bemerken müssen. Andererseits war sie so sehr mit der Steuerung des Schiffs beschäftigt gewesen, dass sie die Vögel womöglich glatt übersehen hatte.
    Moe wechselte mit einem Flügelschlag auf ihre Schulter. Es irritierte sie, dass sie ihn jetzt nicht mehr direkt ansehen konnte, und sie erwartete halbwegs, dass er ihr etwas ins Ohr flüstern würde. Doch der Papagei schwieg und blieb noch einen Moment lang sitzen. Dann stieß er sich ab, flatterte in

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