Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
hat.«
Auch der Geisterhändler sah besorgt aus, sagte aber nichts. Er blieb stiller Beobachter der Ereignisse, vielleicht weil das eine Rolle war, die er anderenorts bereits seit einer Ewigkeit innehatte.
Die Tische der Kapitäne waren zu einem weiten Halbkreis auseinander gezogen worden. Sie bildeten jetzt die eine Begrenzung des Kampfplatzes; die andere war die Felskante und der klaffende Abgrund dahinter. Es gab dort kein Geländer, nur den zerfallenen Dachstuhl des Kirchturms, der vor der Kante wie ein hölzernes Balkengerippe emporragte.
Rouquette hatte seine Männer angewiesen, zwei Enterhaken von einem der Schiffe zu holen. Jeder der beiden Kämpfer, die auf gegenüberliegenden Seiten des Halbkreises Aufstellung bezogen hatten, erhielt eine der lanzenförmigen Waffen.
Enterhaken bestehen aus einem mannslangen hölzernen Schaft mit einer Stahlspitze, von dem ein klauenförmiger Haken abzweigt. Ursprünglich dienten sie während einer Seeschlacht dazu, die Reling eines gegnerischen Schiffes heranzuziehen, um es so den Piraten leichter zu machen, das feindliche Deck zu entern. Allerdings waren die Freibeuter schon vor langer Zeit dazu übergegangen, die Enterhaken auch zum Angriff einzusetzen - oft mit verheerender Wirkung. Die Stahlspitze maß gut anderthalb Fuß und rammte ohne Mühe durch jeden Körper, während der scharfe Haken grausame Wunden hinterließ. Wer kräftig genug war, konnte den langen Schaft sogar in einem weiten Kreis rotieren lassen und damit mehrere Gegner zugleich niedermähen.
Für eine Frau, selbst für eine so geschickte wie Soledad, war der Enterhaken eine sperrige und unhandliche Waffe. Spitze und Haken überragten sie um fast eine Haupteslänge, was es für sie schwierig machte, den Schaft sicher zu packen und im Gleichgewicht zu halten - ganz zu schweigen von Angriffen oder Abwehrbewegungen. Die Wirkung des Enterhakens beruhte allein auf Muskelkraft, der Umgang damit war grob und unelegant. Mit Säbel und Degen hätte Soledad es mühelos mit Kenndrick aufnehmen können. Mit dieser Waffe aber war der Piratenkaiser eindeutig im Vorteil.
Soledad packte den Schaft mit beiden Händen und versuchte, eine ausgewogene Balance zu finden, als Rouquette schon das Signal gab: Mit seiner Pistole feuerte er einmal über den Abgrund hinaus in die Nacht.
Kenndrick stieß einen wilden Schrei aus und stürzte vorwärts. Mit wenigen schnellen Schritten durchmaß er den Halbkreis der Tische, in der Absicht, seine Gegnerin gleich beim ersten Angriff zu durchbohren.
Soledad wich ihm aus und tauchte unter dem Hieb hindurch. Nur Sekunden später versuchte sie ihrerseits, ihn mit dem Haken von den Beinen zu reißen. Auch ihr Angriff schlug fehl, aber er zeigte Kenndrick, dass er kein leichtes Spiel mit ihr haben würde.
Der Geisterhändler legte Walker beruhigend eine Hand auf die Schulter, als er sah, dass der Captain drauf und dran war einzugreifen. »Nicht!«, sagte er scharf. »Sie würden uns alle auf der Stelle umbringen.«
»Ich kann doch nicht zusehen, wie er -«
»Sie hat es so gewollt.«
Walker verstummte und starrte voller Sorge auf den Kampfplatz. Schweiß stand auf seiner Stirn. Seine Hände öffneten und schlossen sich bei jedem Angriff, bei jeder Parade.
Die Stiefel der beiden Gegner wirbelten Staub auf. Dann und wann ging ein »Ohh« und »Ahh« durch die Gruppe der Antillen-Kapitäne, wenn einer der Kämpfer - meist Soledad - in Bedrängnis geriet. Doch die meiste Zeit schwiegen die Männer. Sie alle führten ein Leben voller Kampf und Blutvergießen, und jeder von ihnen hatte hunderte solcher Duelle mit angesehen. Dennoch konnten sie sich dem Spektakel nicht entziehen.
Soledad hielt sich besser, als der Piratenkaiser augenscheinlich vermutet hatte. Zu Beginn brüllte und schnaubte Kenndrick, um sie zu verunsichern, doch als er bemerkte, dass sein bedrohliches Gehabe keine Wirkung zeigte, kämpfte er schweigend wie sie, mit verschlossener Miene und zusammengebissenen Zähnen.
Kenndrick mochte ein Feigling sein, aber er war kein schlechter Kämpfer. Er hatte seine Position unter den Piraten nicht allein durch List und Verrat errungen. Er bewegte sich rasch und entschlossen, seine Attacken kamen oft unvorhergesehen oder zielten auf Stellen, die Soledad nur mühsam schützen konnte.
Die Prinzessin besaß nur einen einzigen Vorteil: Sie war flinker als er, und was ihr an Kraft in den Armen fehlte, machte sie durch Schnelligkeit wett. Das gab ihr wenig Gelegenheit zum Angriff,
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