Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
aber oft genug die Chance, seinen rohen Schlägen auszuweichen. Mehrmals ließ sie ihn ins Leere stolpern, vom eigenen Schwung getragen, der ihn fast von den Füßen riss. Jedes Mal versuchte sie dann, mit dem Enterhaken nachzusetzen, doch immer wieder gelang es ihm, ihren Hieben und Stichen zu entgehen.
Bald bluteten beide aus kleinen Wunden. Kenndriclcs samtene Hose war an den Knien zerrissen, während Soledads Wams am Rücken in Fetzen hing; einer seiner Lanzenstöße hätte fast ihre Wirbelsäule zerschmettert.
Schließlich war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Kräfte von einem der beiden nachlassen würden. Schon zeichnete sich ab, dass nicht Geschick, sondern Erschöpfung den Ausgang des Kampfes einläuten würde. Und keiner der Zuschauer, nicht einmal Walker und der Geisterhändler, hatten Zweifel, wer zwangsläufig als Erste zermürbt sein musste.
Das Gewicht der sperrigen Waffe laugte Soledad aus. Allmählich spürte sie ihre Arme kaum noch. Ihre Finger waren so fest um den Schaft gekrallt, dass sie unsicher war, ob ihre Hände sich jemals wieder freiwillig öffnen würden.
Kenndrick führte den Enterhaken mit unverminderter Kraft. Jedes Mal, wenn es ihr gelang, einen seiner Schläge zu parieren, fuhr die Gewalt des Aufpralls durch ihren ganzen Körper und drohte, sie von den Beinen zu reißen.
Sie musste etwas unternehmen, bevor es zu spät war; irgendwie das Gewitter aus Schlägen und Hieben durchbrechen, das er auf sie herabprasseln ließ.
Ihr fiel nur eine einzige Möglichkeit ein.
Mit ein paar weiten Sätzen löste sie sich aus dem Radius seiner Waffe und rannte auf die Felskante zu. Erstmals seit vielen Minuten stieß Kenndrick wieder einen triumphierenden Schrei aus, denn nun glaubte er, seine Gegnerin in die Flucht geschlagen zu haben.
Doch Soledad plante etwas anderes. Mit voller Geschwindigkeit hielt sie auf den Abgrund zu - und auf das zerfallene Kirchturmgebälk. Neun Fuß Leere klafften zwischen der Felsplattform und den Balken.
Noch im Laufen holte Soledad aus und schleuderte den Enterhaken wie eine Lanze zum Dachstuhl hinüber.
Ein Raunen ging durch die Reihe der Kapitäne.
Die Stahlspitze durchdrang das Holz und blieb heftig vibrierend in einem Balken stecken. Der Dachstuhl knirschte bedenklich. Ein Schwarm Vögel, der bislang unsichtbar in den Schatten gekauert hatte, flatterte kreischend auf, hing einen Moment lang als flirrende Wolke über dem Abgrund und schoss dann in Richtung Urwald davon.
Soledad stieß sich vom Rand der Plattform ab und setzte mit einem weiten Sprung über die Kluft hinweg. Mit einem markerschütternden Fluch prallte sie gegen das Gebälk, hielt sich blitzschnell mit beiden Armen fest und schwenkte herum. Sie war unmittelbar neben dem Enterhaken aufgekommen, der waagerecht in einem der Balken steckte. Das Knirschen des Dachstuhls wurde zu einem verzweifelten Aufbäumen morscher Hölzer. Noch aber hielt das Gerüst. Soledad warf instinktiv einen Blick nach unten: Auf der einen Seite der überwucherten Kirchturmmauer sah sie in der Dunkelheit vage die Baumkronen, auf der anderen, im Inneren des Turms, nichts als einen pechschwarzen Schacht.
Kenndrick kam mit schlitternden Schritten vor dem Abgrund zum Stehen. Verbissen starrte er zu ihr herüber, einen Augenblick lang unsicher, ob er es wagen sollte, ihr zu folgen. Soledad schlang ein Bein um den Balken und hoffte im Stillen, dass er ihr genug Halt geben würde. Dann zerrte sie mit beiden Händen den Enterhaken aus dem Holz. Sie ließ ihn in der rechten Hand herumwirbeln, hielt ihn jetzt wie einen Speer, holte aus und schleuderte ihn über den Abgrund hinweg auf Kenndrick zu.
Der Piratenkaiser schrie, als die Spitze auf seinen Oberschenkel traf, den Knochen zerschmetterte und auf der anderen Seite wieder austrat. Die Wucht des Einschlags riss ihn zurück, die Stahlspitze krachte auf den Fels und schlug Funken. Brüllend fiel Kenndrick auf den Boden, hielt sich mit beiden Händen das Bein und rollte voller Qual von einer Seite auf die andere, während der Schaft des Enterhakens über ihm sinnlos durch die Luft schnitt.
Die Zuschauer hielten den Atem an.
Rouquette erhob sich von seinem Sessel.
Soledad hing keuchend im Dachstuhl des Kirchturms und blickte zur Felsplattform hinüber. Das lange Haar hing ihr verklebt ins Gesicht, Schweiß brannte in ihren Augen. Kenndricks Schmerz erfüllte sie mit tiefer Genugtuung, aber auch mit Unsicherheit. Aus eigener Kraft kam sie hier nicht mehr herunter.
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