Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
Würden die Antillen-Kapitäne Kenndricks Verletzung als Niederlage akzeptieren, obgleich sie nicht tödlich war? Oder war keiner von beiden der Sieger, solange Soledad hier oben ebenso hilflos war wie der Piratenkaiser?
»Die Entscheidung«, rief Rouquette, um das qualvolle Schreien des Verletzten zu übertönen, »ist hiermit -«
» Halt !«, fiel ihm eine Stimme ins Wort, schneidend wie eine Säbelklinge.
Die Köpfe der Antillen-Kapitäne fuhren herum. Einige Männer sprangen auf. Rouquettes Augen verengten sich vor Zorn über die Unterbrechung. Auch der Geisterhändler drehte sich zu dem Mann um, der am oberen Absatz der Felstreppe erschienen war. Nur Walker suchte noch immer verzweifelt nach einer Möglichkeit, Soledad zu retten. Die Pistole seines Bewachers zeigte unverwandt auf seine Brust.
»Verarztet den Mann!«, befahl der Neuankömmling, und sogleich lösten sich aus der Dunkelheit hinter ihm zwei Gestalten und eilten zu dem verletzten Piratenkaiser.
Kenndrick wälzte sich noch immer am Boden. Der Schatten vom Schaft des Enterhakens fächerte über die Felswand wie ein Pendel. Die beiden Männer gingen neben ihm in die Knie. Einer presste Kenndricks Schultern auf den Boden, der andere machte sich daran, das zuckende Bein oberhalb der Wunde abzubinden.
»Tyrone?«, fragte Rouquette und kam hinter seinem Tisch hervor. »Wir haben Euch früher erwartet.«
Der Mann an der Treppe trat in den Schein des Feuers. Er trug weite schwarze Hosen, Stiefel mit breiter Krempe, die bis über seine Knie reichten, und einen schwarzen Gehrock, abgesetzt mit feinstem Silber. Ganz im Gegensatz zu seiner gepflegten Kleidung stand sein Gesicht: Tyrones Züge wie überhaupt sein ganzer Schädel waren mit einem Gespinst aus Zeichnungen bedeckt. Archaische Muster und Wellenlinien umrahmten seine Augen und Lippen, rituelle Bemalungen, die wohl aus der Kultur der Kannibalen-Stämme stammten, zu deren Führer er sich aufgeschwungen hatte. An seinem Hinterkopf wuchs ein langer schwarzer Pferdeschwanz, der Rest seiner Kopfhaut war haarlos, sogar die Augenbrauen fehlten.
Beim Sprechen entblößte Tyrone nadelspitz gefeilte Zähne. Zudem erkannte Walker, der nur wenige Schritt von ihm entfernt stand, dass die Zunge des Kannibalenkönigs gespalten und an den Enden schwarz eingefärbt war.
»Ich bin aufgehalten worden«, sagte er in die Runde. Die gespaltene Zunge gab seinen Worten etwas Zischelndes. »Wie ich sehe, habe ich das Interessanteste gerade verpasst.« Er trat zu Kenndrick, aus dessen Bein man den Enterhaken mittlerweile entfernt hatte. Die Wunde war sauber abgebunden und blutete schwächer. Dennoch hatte der Piratenkaiser das Bewusstsein verloren.
Einer der beiden Männer, die sich auf Tyrones Geheiß um den Verletzten gekümmert hatten, blickte auf. »Er wird das Bein verlieren. Der Knochen ist zersplittert.«
»Bringt ihn an Bord seines Schiffes«, kommandierte Tyrone mit einem Wink seiner Hand. »Seine Männer sollen sich um ihn kümmern.«
Soledad war fasziniert und gleichzeitig angewidert von der Albtraumgestalt des Kannibalenkönigs. Es war beeindruckend, mit welcher Überheblichkeit er vor die mächtigen Antillen-Kapitäne trat. Eines machten seine Erscheinung und sein Tonfall auf Anhieb deutlich: Wenn er sprach, redete kein anderer, weder Rouquette noch Galliano oder einer der Übrigen. Er saugte die Aufmerksamkeit aller auf sich, bis sich alles nur um ihn drehte.
Die Prinzessin klammerte sich noch immer an den Dachstuhl des Kirchturms. Allmählich wurden ihre Arme taub. Trotzdem rührte sie sich nicht. Es lag nicht mehr im Ermessen der Kapitäne, ob sie je wieder lebend von diesem Turm herunterkommen würde. Das würde jetzt Tyrone entscheiden.
»Eine Planke!«, rief er, ohne sie eines Blickes zu würdigen. »Es gebührt sich nicht für eine Prinzessin, dort oben zu hocken wie ein Affe.«
Niemand lachte. Niemand widersprach. Sofort eilten zwei Piraten los und kehrten mit einem stabilen Brett zurück, das sie von der Felskante zum Dachstuhl hinüberschoben. Soledad war nicht sicher, ob ihre Beine sie tragen würden, aber sie musste das Risiko eingehen. Schwankend balancierte sie über die Planke. Der Abgrund zerrte an ihr, die Dunkelheit griff mit Schattenfingern nach ihren Füßen.
Als sie festen Boden erreichte, brach sie mit zusammengebissenen Zähnen in die Knie.
Keine Pistole vermochte Walker jetzt noch aufzuhalten. Er stürmte quer über den Kampfplatz, nahm Soledad in die Arme und half ihr hoch.
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