Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Beschlüsse steigen unerwartet und zu unserer eigenen Verwunderung aus jener Tiefe auf. Ein Brief bringt uns unvermuthete, wichtige Nachrichten, in Folge deren eine Verwirrung unserer Gedanken und Motive eintritt: wir entschlagen uns der Sache einstweilen und denken nicht wieder daran; aber am andern, oder dem dritten, vierten Tage steht bisweilen das ganze Verhältniß, mit dem was wir dabei zu thun haben, deutlich vor uns. Das Bewußtsein ist die bloße Oberfläche unsers Geistes, von welchem, wie vom Erdkörper, wir nicht das Innere, sondern nur die Schaale kennen.
Was aber die Gedankenassociation selbst, deren Gesetze oben dargelegt worden, in Thätigkeit versetzt, ist, in letzter Instanz, oder im Geheimen unsers Innern, der Wille , welcher seinen Diener, den Intellekt, antreibt, nach Maaßgabe seiner Kräfte, Gedanken an Gedanken zu reihen, das Aehnliche, das Gleichzeitige zurückzurufen, Gründe und Folgen zu erkennen: denn im Interesse des Willens liegt, daß überhaupt gedacht werde, damit man möglichst orientirt sei, für alle vorkommenden Fälle. Daher ist die Gestalt des Satzes vom Grunde, welche die Gedankenassociation beherrscht und thätig erhält, im letzten Grunde, das Gesetz der Motivation; weil Das, was das Sensorium lenkt und es bestimmt, in dieser oder jener Richtung, der Analogie, oder sonstigen Gedankenassociation, nachzugehn, der Wille des denkenden Subjekts ist. Wie nun also hier die Gesetze des Ideennexus doch nur auf der Basis des Willens bestehn; so besteht der Kausalnexus der Körper in der realen Welt eigentlich auch nur auf der Basis des in den Erscheinungen dieser sich äußernden Willens; weshalb die Erklärung aus Ursachen nie eine absolute und erschöpfende ist, sondern zurückweist auf Naturkräfte als ihre Bedingung, deren Wesen eben der Wille als Ding an sich ist; – wobei ich freilich das folgende Buch anticipirt habe.
Weil nun aber die äußern (sinnlichen) Anlässe der Gegenwart unserer Vorstellungen eben so wohl wie die innern (der Gedankenassociation), und beide unabhängig von einander, beständig auf das Bewußtseyn einwirken; so entstehn hieraus die häufigen Unterbrechungen unsers Gedankenlaufs, welche eine gewisse Zerstückelung und Verwirrung unsers Denkens herbeiführen, die zu den nicht zu beseitigenden Unvollkommenheiten desselben gehört, welche wir jetzt in einem eigenen Kapitel betrachten wollen.
Kapitel 15. Von den wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts
Unser Selbstbewußtseyn hat nicht den Raum, sondern allein die Zeit zur Form: deshalb geht unser Denken nicht, wie unser Anschauen, nach drei Dimensionen vor sich, sondern bloß nach einer , also auf einer Linie, ohne Breite und Tiefe. Hieraus entspringt die größte der wesentlichen Unvollkommenheiten unsers Intellekts. Wir können nämlich Alles nur successive erkennen und nur Eines zur Zeit uns bewußt werden, ja, auch dieses Einen nur unter der Bedingung, daß wir derweilen alles Andere vergessen, also uns desselben gar nicht bewußt sind, mithin es so lange aufhört für uns dazuseyn. In dieser Eigenschaft ist unser Intellekt einem Teleskop mit einem sehr engen Gesichtsfelde zu vergleichen; weil eben unser Bewußtseyn kein stehendes, sondern ein fließendes ist. Der Intellekt apprehendirt nämlich nur successiv und muß, um das Eine zu ergreifen, das Andere fahren lassen, nichts, als die Spuren von ihm zurückbehaltend, welche immer schwächer werden. Der Gedanke, der mich jetzt lebhaft beschäftigt, muß mir, nach einer kurzen Weile, ganz entfallen seyn: tritt nun noch eine wohldurchschlafene Nacht dazwischen; so kann es kommen, daß ich ihn nie wiederfinde; es sei denn, daß er an mein persönliches Interesse, d.h. an meinen Willen geknüpft wäre, als welcher stets das Feld behauptet.
Auf dieser Unvollkommenheit des Intellekts beruht das Rhapsodische und oft Fragmentarische unsers Gedankenlaufs, welches ich bereits am Schlusse des vorigen Kapitels berührt habe, und aus diesem entsteht die unvermeidliche Zerstreuung unsers Denkens. Theils nämlich dringen äußere Sinneseindrücke störend und unterbrechend auf dasselbe ein, ihm jeden Augenblick das Fremdartigste aufzwingend, theils zieht am Bande der Association ein Gedanke den andern herbei und wird nun selbst von ihm verdrängt; theils endlich ist auch der Intellekt selbst nicht ein Mal fähig sich sehr lange und anhaltend auf einen Gedanken zu heften: sondern wie das Auge, wenn es lange auf einen Gegenstand hinstarrt, ihn bald nicht mehr
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