Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Begierde, Betrübniß u.s.w., und man fordert uns jetzt zum Erkennen , etwan in der Absicht der Berichtigung der Motive jener Affekte, auf; so bezeugt die Gewalt, die wir uns dazu anthun müssen, den Uebergang aus der ursprünglichen, natürlichen und selbsteigenen, in die abgeleitete, mittelbare und erzwungene Thätigkeit. – Denn der Wille allein ist automatos und daher akamatos kai agêratos êmata panta (lassitudinis et senii expers in sempiternum) . Er allein ist unaufgefordert, daher oft zu früh und zu sehr, thätig, und kennt kein Ermüden. Säuglinge, die kaum die erste schwache Spur von Intelligenz zeigen, sind schon voller Eigenwillen: durch unbändiges, zweckloses Toben und Schreien zeigen sie den Willensdrang, von dem sie strotzen, während ihr Wollen noch kein Objekt hat, d.h. sie wollen, ohne zu wissen was sie wollen. Hieher gehört auch was Cabanis bemerkt: Toutes ces passions, qui se succèdent d'une manière si rapide, et se peignent avec tant de naïveté, sur le visage mobile des enfans. Tandis que les faibles muscles de leurs bras et de leurs jambes savent encore à peine former quelques mouvemens indécis, les muscles de la face expriment déja par des mouvemens distincts presque toute la suite des affections générales propres à la nature humaine: et l'observateur attentif reconnait facilement dans ce tableau les traits caractéristiques de l'homme futur. (Rapports du physique et moral, Vol. I, p. 123.) – Der Intellekt hingegen entwickelt sich langsam, der Vollendung des Gehirns und der Reife des ganzen Organismus folgend, welche seine Bedingungen sind; eben weil er nur eine somatische Funktion ist. Weil das Gehirn schon mit dem siebenten Jahre seine volle Größe erlangt hat, werden die Kinder, von dem an, so auffallend intelligent, wißbegierig und vernünftig. Danach aber kommt die Pubertät: sie ertheilt dem Gehirn gewissermaaßen einen Widerhalt, oder einen Resonanzboden, und hebt mit Einem Male den Intellekt um eine große Stufe, gleichsam um eine Oktave, entsprechend ihrem Herabsetzen der Stimme um eine solche. Aber zugleich widerstreben jetzt die auftretenden thierischen Begierden und Leidenschaften der Vernünftigkeit, welche vorher herrschte, und Dies nimmt zu. Von der Unermüdlichkeit des Willens zeugt ferner der Fehler, welcher, mehr oder weniger, wohl allen Menschen von Natur eigen ist und nur durch Bildung bezwungen wird: die Voreiligkeit . Sie besteht darin, daß der Wille vor der Zeit an sein Geschäft eilt. Dieses nämlich ist das rein Aktive und Exekutive, welches erst eintreten soll, nachdem das Explorative und Deliberative, also das Erkennende, sein Geschäft völlig und ganz beendigt hat. Aber selten wird diese Zeit wirklich abgewartet. Kaum sind über die vorliegenden Umstände, oder die eingetretene Begebenheit, oder die mitgetheilte fremde Meinung, einige wenige Data von der Erkenntniß obenhin aufgefaßt und flüchtig zusammengerafft; so tritt schon aus der Tiefe des Gemüths der stets bereite und nie müde Wille unaufgefordert hervor, und zeigt sich als Schreck, Furcht, Hoffnung, Freude, Begierde, Neid, Betrübniß, Eifer, Zorn, Wuth, und treibt zu raschen Worten oder Thaten, auf welche meistens Reue folgt, nachdem die Zeit gelehrt hat, daß das Hegemonikon, der Intellekt, mit seinem Geschäft des Auffassens und der Umstände, Ueberlegens ihres Zusammenhanges und Beschließens des Rathsamen, nicht hat auch nur halb zu Ende kommen können, weil der Wille es nicht abwartete, sondern lange vor seiner Zeit vorsprang mit »jetzt ist die Reihe an mir!« und sofort die Aktive ergriff, ohne daß der Intellekt Widerstand leistete, als welcher ein bloßer Sklave und Leibeigener des Willens, nicht aber, wie dieser, automatos , noch aus eigener Kraft und eigenem Drange thätig ist; daher er vom Willen leicht bei Seite geschoben und durch einen Wink desselben zur Ruhe gebracht wird; während er seinerseits, mit der äußersten Anstrengung, kaum vermag, den Willen auch nur zu einer kurzen Pause zu bringen, um zum Worte zu kommen. Dieserhalb sind die Leute so selten und werden fast nur unter Spaniern, Türken und allenfalls Engländern gefunden, welche, auch unter den provocirendesten Umständen, den Kopf oben behalten, die Auffassung und Untersuchung der Sachlage imperturbirt fortsetzen und, wo Andere schon außer sich wären, con mucho sosiego , eine fernere Frage thun; welches etwas ganz Anderes ist, als die auf Phlegma und Stumpfheit beruhende Gelassenheit vieler Deutschen
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