Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
wir uns keine Fähigkeit zutrauten. – Der Verstand des stumpfesten Menschen wird scharf, wann es sehr angelegene Objekte seines Wollens gilt: er merkt, beachtet und unterscheidet jetzt mit großer Feinheit auch die kleinsten Umstände, welche auf sein Wünschen oder Fürchten Bezug haben. Dies trägt viel bei zu der oft mit Ueberraschung bemerkten Schlauheit der Dummen. Eben deshalb sagt Jesaias mit Recht vexatio dat intellectum , welches daher auch sprichwörtlich gebraucht wird: ihm verwandt ist das deutsche Sprichwort »die Noth ist die Mutter der Künste«, – wobei jedoch die schönen Künste auszunehmen sind; weil der Kern jedes ihrer Werke, nämlich die Konception, aus einer völlig willenlosen und nur dadurch rein objektiven Anschauung hervorgehn muß, wenn sie acht seyn sollen. – Selbst der Verstand der Thiere wird durch die Noth bedeutend gesteigert, so daß sie in schwierigen Fällen Dinge leisten, über die wir erstaunen: z.B. fast alle berechnen, daß es sicherer ist, nicht zu fliehen, wann sie sich ungesehn glauben: daher liegt der Hase still in der Furche des Feldes und läßt den Jäger dicht an sich vorbeigehn; Insekten, wenn sie nicht entrinnen können, stellen sich todt u.s.f. Genauer kann man diesen Einfluß kennen lernen durch die specielle Selbstbildungsgeschichte des Wolfes, unter dem Sporn der großen Schwierigkeit seiner Stellung im civilisirten Europa: sie ist zu finden im zweiten Briefe des vortrefflichen Buches von Leroy , Lettres sur l'intelligence et la perfectibilité des animaux. Gleich darauf folgt, im dritten Briefe, die hohe Schule des Fuchses, welcher, in gleich schwieriger Lage, viel geringere Körperkräfte hat, die bei ihm durch größeren Verstand ersetzt sind, der aber doch erst durch den beständigen Kampf mit der Noth einerseits und der Gefahr andererseits, also unter dem Sporn des Willens, den hohen Grad von Schlauheit erreicht, welcher ihn, besonders im Alter, auszeichnet. Bei allen diesen Steigerungen des Intellekts spielt der Wille die Rolle des Reiters, der durch den Sporn das Pferd über das natürliche Maaß seiner Kräfte hinaus treibt.
Eben so wird auch das Gedächtniß durch den Drang des Willens gesteigert. Selbst wenn es sonst schwach ist, bewahrt es vollkommen was für die herrschende Leidenschaft Werth hat. Der Verliebte vergißt keine ihm günstige Gelegenheit, der Ehrgeizige keinen Umstand, der zu seinen Plänen paßt, der Geizige nie den erlittenen Verlust, der Stolze nie die erlittene Ehrenkränkung, der Ekele behält jedes Wort des Lobes und auch die kleinste ihm widerfahrene Auszeichnung. Auch Dies erstreckt sich auf die Thiere: das Pferd bleibt vor dem Wirtshause stehn, in welchem es längst ein Mal gefüttert worden: Hunde haben ein treffliches Gedächtniß für alle Gelegenheiten, Zeiten und Orte, die gute Bissen abgeworfen haben; und Füchse für die verschiedenen Verstecke, in denen sie einen Raub niedergelegt haben.
Zu feineren Bemerkungen in dieser Hinsicht giebt die Selbstbeobachtung Gelegenheit. Bisweilen ist mir, durch eine Störung, ganz entfallen, worüber ich soeben nachdachte, oder sogar, welche Nachricht es gewesen, die mir soeben zu Ohren gekommen war. Hatte nun die Sache irgendwie ein auch noch so entferntes, persönliches Interesse; so ist von der Einwirkung, die sie dadurch auf den Willen hatte, der Nachklang geblieben: ich bin mir nämlich noch genau bewußt, wie weit sie mich angenehm, oder unangenehm afficirte, und auch auf welche specielle Weise dies geschah, nämlich ob sie, wenn auch in schwachem Grade, mich kränkte, oder ängstigte, oder erbitterte, oder betrübte, oder aber die diesen entgegengesetzten Affektionen hervorrief. Also bloß die Beziehung der Sache auf meinen Willen hat sich, nachdem sie selbst mir entschwunden ist, im Gedächtniß erhalten, und oft wird diese nun wieder der Leitfaden, um auf die Sache selbst zurückzukommen. Auf analoge Art wirkt bisweilen auf uns der Anblick eines Menschen, indem wir uns nur im Allgemeinen erinnern, mit ihm zu thun gehabt zu haben, ohne jedoch zu wissen, wo, wann und was es gewesen, noch wer er sei; hingegen ruft sein Anblick noch ziemlich genau die Empfindung zurück, welche ehemals seine Angelegenheit in uns erregt hat, nämlich ob sie unangenehm oder angenehm, auch in welchem Grad und in welcher Art sie es gewesen: also bloß den Anklang des Willens hat das Gedächtniß aufbewahrt, nicht aber Das, was ihn hervorrief. Man könnte Das, was diesem Hergange zum Grunde liegt,
Weitere Kostenlose Bücher