Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Mühen, beständiges Drängen, endlosen Kampf, erzwungene Thätigkeit, mit äußerster Anstrengung aller Leibes- und Geisteskräfte. Viele Millionen, zu Völkern vereinigt, streben nach dem Gemeinwohl, jeder Einzelne seines eigenen wegen; aber viele Tausende fallen als Opfer für dasselbe. Bald unsinniger Wahn, bald grübelnde Politik, hetzt sie zu Kriegen auf einander: dann muß Schweiß und Blut des großen Haufens fließen, die Einfälle Einzelner durchzusetzen, oder ihre Fehler abzubüßen. Im Frieden ist Industrie und Handel thätig, Erfindungen thun Wunder, Meere werden durchschifft, Leckereien aus allen Enden der Welt zusammengeholt, die Wellen verschlingen Tausende. Alles treibt, die Einen sinnend, die Andern handelnd, der Tumult ist unbeschreiblich. – Aber der letzte Zweck von dem Allen, was ist er? Ephemere und geplagte Individuen eine kurze Spanne Zeit hindurch zu erhalten, im glücklichsten Fall mit erträglicher Noth und komparativer Schmerzlosigkeit, der aber auch sogleich die Langeweile aufpaßt; sodann die Fortpflanzung dieses Geschlechts und seines Treibens. – Bei diesem offenbaren Mißverhältniß zwischen der Mühe und dem Lohn, erscheint uns, von diesem Gesichtspunkt aus, der Wille zum Leben, objektiv genommen, als ein Thor, oder subjektiv, als ein Wahn, von welchem alles Lebende ergriffen, mit äußerster Anstrengung seiner Kräfte, auf etwas hinarbeitet, das keinen Werth hat. Allein bei genauerer Betrachtung werden wir auch hier finden, daß er vielmehr ein blinder Drang, ein völlig grundloser, unmotivirter Trieb ist.
Das Gesetz der Motivation nämlich erstreckt sich, wie § 29 des ersten Bandes ausgeführt worden, nur auf die einzelnen Handlungen, nicht auf das Wollen im Ganzen und überhaupt. Hierauf beruht es, daß wenn wir das Menschengeschlecht und sein Treiben im Ganzen und Allgemeinen auffassen, dasselbe sich uns nicht, wie wenn wir die einzelnen Handlungen im Auge haben, darstellt als ein Spiel von Puppen, die nach Art der gewöhnlichen, durch äußere Fäden gezogen werden; sondern, von diesem Gesichtspunkt aus, als Puppen, welche ein inneres Uhrwerk in Bewegung setzt. Denn, wenn man, wie im Obigen geschehn, das so rastlose, ernstliche und mühevolle Treiben der Menschen vergleicht mit Dem, was ihnen dafür wird, ja auch nur jemals werden kann; so stellt das dargelegte Mißverhältniß sich heraus, indem man erkennt, daß das zu Erlangende, als bewegende Kraft genommen, zur Erklärung jener Bewegung und jenes rastlosen Treibens durchaus unzulänglich ist. Was nämlich ist denn ein kurzer Aufschub des Todes, eine kleine Erleichterung der Noth, Zurückschiebung des Schmerzes, momentane Stillung des Wunsches, – bei so häufigem Siege jener Allen und gewissem des Todes? Was könnten dergleichen Vortheile vermögen, genommen als wirkliche Bewegungsursachen eines, durch stete Erneuerung, zahllosen Menschengeschlechts, welches unablässig sich rührt, treibt, drängt, quält, zappelt und die gesammte tragikomische Weltgeschichte aufführt, ja, was mehr als Alles sagt, ausharrt in einer solchen Spottexistenz, so lange als Jedem nur möglich? – Offenbar ist das Alles nicht zu erklären, wenn wir die bewegenden Ursachen außerhalb der Figuren suchen und das Menschengeschlecht uns denken als in Folge einer vernünftigen Ueberlegung, oder etwas dieser Analoges (als ziehende Fäden), strebend nach jenen ihm dargebotenen Gütern, deren Erlangung ein angemessener Lohn wäre für sein rastloses Mühen und Plagen. Die Sache so genommen, würde vielmehr Jeder längst gesagt haben le jeu ne vaut pas la chandelle und hinaus gegangen seyn. Aber, im Gegentheil, Jeder bewacht und beschützt sein Leben, gleichwie ein ihm bei schwerer Verantwortlichkeit anvertrautes theures Pfand, unter endloser Sorge und häufiger Noth, darunter eben das Leben hingeht. Das Wofür und Warum, den Lohn dafür sieht er freilich nicht; sondern er hat den Werth jenes Pfandes unbesehens, auf Treu und Glauben, angenommen, und weiß nicht, worin er besteht. Daher habe ich gesagt, daß jene Puppen nicht von außen gezogen werden, sondern jede das Uhrwerk in sich trägt, vermöge dessen ihre Bewegungen erfolgen. Dieses ist der Wille zum Leben, sich bezeigend als ein unermüdliches Triebwerk, ein unvernünftiger Trieb, der seinen zureichenden Grund nicht in der Außenwelt hat. Er hält die Einzelnen fest auf diesem Schauplatz und ist das primum mobile ihrer Bewegungen; während die äußern Gegenstände, die Motive, bloß die
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