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Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Titel: Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schopenhauer
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gänzlich unter der Herrschaft des Zufalls stehn, welcher die Dinge selten zur rechten Zeit herbeibringt, selten zweckmäßig ordnet und meistens sie in sehr mangelhaften Exemplaren uns vorführt. Deshalb bedarf es der Phantasie , um alle bedeutungsvollen Bilder des Lebens zu vervollständigen, zu ordnen, auszumalen, festzuhalten und beliebig zu wiederholen, je nachdem es die Zwecke einer tief eindringenden Erkenntniß und des bedeutungsvollen Werkes, dadurch sie mitgetheilt werden soll, erfordern. Hierauf beruht der hohe Werth der Phantasie, als welche ein dem Genie unentbehrliches Werkzeug ist. Denn nur vermöge derselben kann dieses, je nach den Erfordernissen des Zusammenhanges seines Bildens, Dichtens, oder Denkens, jeden Gegenstand oder Vorgang sich in einem lebhaften Bilde vergegenwärtigen und so stets frische Nahrung aus der Urquelle aller Erkenntniß, dem Anschaulichen, schöpfen. Der Phantasiebegabte vermag gleichsam Geister zu citiren, die ihm, zur rechten Zeit, die Wahrheiten offenbaren, welche die nackte Wirklichkeit der Dinge nur schwach, nur selten und dann meistens zur Unzeit darlegt. Zu ihm verhält sich daher der Phantasielose, wie zum freibeweglichen, ja geflügelten Thiere die an ihren Felsen gekittete Muschel, welche abwarten muß, was der Zufall ihr zuführt. Denn ein Solcher kennt keine andere, als die wirkliche Sinnesanschauung: bis sie kommt nagt er an Begriffen und Abstraktionen, welche doch nur Schaalen und Hülsen, nicht der Kern der Erkenntniß sind. Er wird nie etwas Großes leisten; es wäre denn im Rechnen und der Mathematik. – Die Werke der bildenden Künste und der Poesie, imgleichen die Leistungen der Mimik, können auch angesehn werden als Mittel, Denen, die keine Phantasie haben, diesen Mangel möglichst zu ersetzen, Denen aber, die damit begabt sind, den Gebrauch derselben zu erleichtern.
    Obgleich demnach die eigenthümliche und wesentliche Erkenntnißweise des Genies die anschauende ist; so machen den eigentlichen Gegenstand derselben doch keineswegs die einzelnen Dinge aus, sondern die in diesen sich aussprechenden (Platonischen) Ideen, wie deren Auffassung im 29. Kapitel analysirt worden. Im Einzelnen stets das Allgemeine zu sehn, ist gerade der Grundzug des Genies; während der Normalmensch im Einzelnen auch nur das Einzelne als solches erkennt, da es nur als solches der Wirklichkeit angehört, welche allein für ihn Interesse, d.h. Beziehungen zu seinem Willen hat. Der Grad, in welchem Jeder im einzelnen Dinge nur dieses, oder aber schon ein mehr oder minder Allgemeines, bis zum Allgemeinsten der Gattung hinauf, nicht etwan denkt, sondern geradezu erblickt, ist der Maaßstab seiner Annäherung zum Genie. Diesem entsprechend ist auch nur das Wesen der Dinge überhaupt, das Allgemeine in ihnen, das Ganze, der eigentliche Gegenstand des Genies: die Untersuchung der einzelnen Phänomene ist das Feld der Talente, in den Realwissenschaften, deren Gegenstand eigentlich immer nur die Beziehungen der Dinge zu einander sind.
    Was im vorhergegangenen Kapitel ausführlich gezeigt worden, daß nämlich die Auffassung der Ideen dadurch bedingt ist, daß das Erkennende das reine Subjekt der Erkenntniß sei, d.h. daß der Wille gänzlich aus dem Bewußtseyn verschwinde, bleibt uns hier gegenwärtig. – Die Freude, welche wir an manchen, die Landschaft uns vor Augen bringenden Liedern Goethes , oder an den Naturschilderungen Jean Pauls haben, beruht darauf, daß wir dadurch der Objektivität jener Geister, d.h. der Reinheit theilhaft werden, mit welcher in ihnen die Welt als Vorstellung sich von der Welt als Wille gesondert und gleichsam ganz davon abgelöst hatte. – Daraus, daß die Erkenntnißweise des Genies wesentlich die von allem Wollen und seinen Beziehungen gereinigte ist, folgt auch, daß die Werke desselben nicht aus Absicht oder Willkür hervorgehn, sondern es dabei geleitet ist von einer instinktartigen Nothwendigkeit. – Was man das Regewerden des Genius, die Stunde der Weihe, den Augenblick der Begeisterung nennt, ist nichts Anderes, als das Freiwerden des Intellekts, wann dieser, seines Dienstes unter dem Willen einstweilen enthoben, jetzt nicht in Unthätigkeit oder Abspannung versinkt, sondern, auf eine kurze Weile, ganz allein, aus freien Stücken, thätig ist. Dann ist er von der größten Reinheit und wird zum klaren Spiegel der Welt: denn, von seinem Ursprung, dem Willen, völlig abgetrennt, ist er jetzt die in einem Bewußtseyn koncentrirte Welt als Vorstellung

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