Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Beschaffenheit unsers Intellekts bedingtes Phänomen. Ja, das ganze Seyn und Nichtseyn selbst dieser Einzelwesen, in Beziehung auf welches Tod und Leben Gegensätze sind, kann nur ein relatives seyn: die Sprache der Natur, in welcher es uns als ein absolutes gegeben wird, kann also nicht der wahre und letzte Ausdruck der Beschaffenheit der Dinge und der Ordnung der Welt seyn, sondern wahrlich nur ein patois du pays , d.h. ein bloß relativ Wahres, ein Sogenanntes, ein cum grano salis zu Verstehendes, oder eigentlich zu reden, ein durch unsern Intellekt Bedingtes. – Ich sage, eine unmittelbare, intuitive Ueberzeugung der Art, wie ich sie hier mit Worten zu umschreiben gesucht habe, wird sich Jedem aufdringen: d.h. freilich nur Jedem, dessen Geist nicht von der ganz gemeinen Gattung ist, als welche, schlechterdings nur das Einzelne, ganz und gar als solches, zu erkennen fähig, streng auf Erkenntniß der Individuen beschränkt ist, nach Art des thierischen Intellekts. Wer hingegen, durch eine nur etwas höher potenzirte Fähigkeit, auch bloß anfängt, in den Einzelwesen ihr Allgemeines, ihre Ideen, zu erblicken, der wird auch jener Ueberzeugung in gewissem Grade theilhaft werden, und zwar als einer unmittelbaren und darum gewissen. In der That sind es auch nur die kleinen, beschränkten Köpfe, welche ganz ernstlich den Tod als ihre Vernichtung fürchten; aber vollends von den entschieden Bevorzugten bleiben solche Schrecken gänzlich fern. Plato gründete mit Recht die ganze Philosophie auf die Erkenntniß der Ideenlehre, d.h. auf das Erblicken des Allgemeinen im Einzelnen. Ueberaus lebhaft aber muß die hier beschriebene, unmittelbar aus der Auffassung der Natur hervorgehende Ueberzeugung in jenen erhabenen und kaum als bloße Menschen denkbaren Urhebern des Upanischads der Veden gewesen seyn, da dieselbe aus unzähligen ihrer Aussprüche so sehr eindringlich zu uns redet, daß wir diese unmittelbare Erleuchtung ihres Geistes Dem zuschreiben müssen, daß diese Weisen, als dem Ursprunge unsers Geschlechtes, der Zeit nach, näher stehend, das Wesen der Dinge klarer und tiefer auffaßten, als das schon abgeschwächte Geschlecht, hoioi nyn brotoi eisin , es vermag. Allerdings aber ist ihrer Auffassung auch die in ganz anderm Grade, als in unserm Norden, belebte Natur Indiens entgegengekommen. – Inzwischen leitet auch die durchgeführte Reflexion, wie Kants großer Geist sie verfolgte, auf anderm Wege, eben dahin, indem sie uns belehrt, daß unser Intellekt, in welchem jene so rasch wechselnde Erscheinungswelt sich darstellt, nicht das wahre, letzte Wesen der Dinge, sondern bloß die Erscheinung desselben auffaßt, und zwar, wie ich hinzusetze, weil er ursprünglich nur bestimmt ist, unserm Willen die Motive vorzuschieben, d.h. ihm beim Verfolgen seiner kleinlichen Zwecke dienstbar zu seyn.
Setzen wir inzwischen unsere objektive und unbefangene Betrachtung der Natur noch weiter fort. – Wenn ich ein Thier, sei es ein Hund, ein Vogel, ein Frosch, ja sei es auch nur ein Insekt, tödte; so ist es eigentlich doch undenkbar, daß dieses Wesen, oder vielmehr die Urkraft, vermöge welcher eine so bewunderungswürdige Erscheinung, noch den Augenblick vorher, sich in ihrer vollen Energie und Lebenslust darstellte, durch meinen boshaften, oder leichtsinnigen Akt zu Nichts geworden seyn sollte. – Und wieder andererseits, die Millionen Thiere jeglicher Art, welche jeden Augenblick, in unendlicher Mannigfaltigkeit, voll Kraft und Strebsamkeit ins Daseyn treten, können nimmermehr vor dem Akt ihrer Zeugung gar nichts gewesen und von nichts zu einem absoluten Anfang gelangt seyn. – Sehe ich nun auf diese Weise Eines sich meinem Blicke entziehn, ohne daß ich je erfahre, wohin es gehe; und ein Anderes hervortreten, ohne daß ich je erfahre, woher es komme; haben dazu noch Beide die selbe Gestalt, das selbe Wesen, den selben Charakter, nur allein nicht die selbe Materie, welche jedoch sie auch während ihres Daseyns fortwährend abwerfen und erneuern; – so liegt doch wahrlich die Annahme, daß Das, was verschwindet, und Das, was an seine Stelle tritt, Eines und das selbe Wesen sei, welches nur eine kleine Veränderung, eine Erneuerung der Form seines Daseyns, erfahren hat, und daß mithin was der Schlaf für das Individuum ist, der Tod für die Gattung sei; – diese Annahme, sage ich, liegt so nahe, daß es unmöglich ist, nicht auf sie zu gerathen, wenn nicht der Kopf, in früher Jugend, durch Einprägung falscher
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