Die Welt auf dem Kopf
brüllte: »Weiß du, wie oft meine Mutter schon zu mir gesagt hat: ›Es wäre besser, du wärest nie geboren!‹? Und trotzdem bin ich hier, siehst du, gesund und munter und obendrein glücklicher Vater eines wunderbaren Kindes!«
Wenn ich vom Land zurückkomme, bringe ich jedes Mal Obst für die Schiffbrüchigen mit, die in der Marina gestrandet sind, und Blumen für Anna, die sie immer in die böhmische Kristallvase gibt. Anfangs brachte ich auch für Johnson junior Blumen und Obst mit, aber jetzt, da ich ihm allesüber meinen Vater und meine Mutter erzählt habe, will er es nicht mehr.
»Wie alt waren deine Eltern?«, fragte er mich.
»Noch keine vierzig.«
»Also jünger als ich heute. Sie hatten noch das ganze Leben vor sich. Sie hätten sich trennen und eigenen Wege gehen können. Tut mir leid, aber diese Geschichte berührt mich nicht. Im Gegenteil, ich finde sie ärgerlich. Ich bitte dich, mir nie wieder etwas aus eurem Garten mitzubringen. Und mir nie wieder etwas von deinen Eltern und deinem Dorf zu erzählen, und auch nicht von deiner Lehrerin, die dich ›Kleiner stummer Buchstabe‹ nannte. Wenn du eines Tages eine berühmte Schriftstellerin bist, wird sie nicht ungeschoren davonkommen, denn ich werde ihr einen Besuch abstatten, sie fesseln und ihr all die Bücher in den Mund stopfen, die du veröffentlicht hast und die dich berühmt gemacht haben, und ich werde keine Ruhe geben, ehe sie sie gekaut und heruntergeschluckt hat, während ich ihr ins Ohr flüstere: ›Und, schmecken sie dir, die kleinen stummen Buchstaben, hm? Los, herunterschlucken, und zwar alle.‹«
»Ich will gar keinen Erfolg«, protestierte ich, »weil die Leute dann immer großartige Sachen von einem erwarten. Das Problem ist, dass sich kein Buch mehr mit jenem messen kann, das einen berühmt gemacht hat. Weißt du, was man von den Schriftstellern sagt, die nur mit einem einzigen Buch Erfolg hatten? Dass es scheint, als hätte die anderen ihr dummer Bruder geschrieben!«
»Na und, dann erwiderst du ihnen, dass du ein Einzelkind bist!«
Sicher, ich bin ein Einzelkind, aber mittlerweile habe ich eine zahlreiche Familie, und was macht es schon, wenn Johnson senior nicht wirklich mein Großvater, Natascha nicht wirklich meine Schwester, Anna nicht wirklich meine Mutter und Giovannino nicht wirklich mein Kind ist. Aber eines wünsche ich mir: dass Johnson junior eines Tages wirklich mein Mann wird.
Ich tue gern Dinge, die in einer Familie ganz selbstverständlich sind. Zum Beispiel zu Anna zu gehen und ihr etwas zum Stopfen zu bringen. Ich könnte dann ebenso gut wieder gehen, aber ich möchte noch ein bisschen in ihrem Schrankzimmer bleiben und dem Geräusch der Nähmaschine lauschen, während im Kochtopf auf dem Herd etwas vor sich hin köchelt und der Essensduft aus der Küche mich hungrig macht, jetzt, da ich nicht mehr so mager, ja fast magersüchtig bin wie früher, als sich Annina Sorgen wegen mir machte, und auch nicht mehr voller Ängste. Gewiss, hin und wieder denke ich noch immer, dass unser Haus in Flammen aufgehen oder es eine Gasexplosion geben könnte oder hinter dem Eingangstor Mörder lauern könnten, aber ich tue, was Johnson junior mich gelehrt hat, und rechne die Wahrscheinlichkeit, mit der diese Ereignisse eintreten könnten, in Prozent aus. Denn was er sagt, leuchtet mir ein: dass in den Zeitungen über derlei Vorfälle nur deswegen berichtet wird, weil sie äußerst selten sind. Wenn dem nicht so wäre, würdendie Journalisten schreiben: »Heute ist kein Wohnhaus in die Luft gegangen, hat es keine Brände gegeben und niemand ist auf der Schwelle seiner Wohnung ermordet worden.« Und das bedeutet, dass die Welt gut ist, sagt Johnson junior. Und fügt hinzu: »Prozentual gesehen.«
Nur nachts habe ich nach wie vor Angst. Deswegen schlafe ich lieber tagsüber, wenn alle anderen wach und wachsam sind. Nachts hingegen, wenn sich alle ins Land der Träume verabschiedet haben, muss ich wach und aufmerksam sein. Die Abende mag ich am liebsten. Wenn in den Küchen das Licht angeht und sich noch niemand ins Land der Träume aufgemacht hat.
Elf
I n der Zeitschrift, die ich immer kaufe, stand ein Bericht über das Comeback von einem der berühmtesten Jazzgeiger aller Zeiten, Levi Johnson. Zuerst dachte ich, es handele sich um einen Namensvetter, denn das abgebildete Foto zeigte einen jungen Mann, der mir keine Ähnlichkeit mit dem Signore von oben zu haben schien. Doch als ich weiterlas und immer mehr
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