Die Welt auf dem Kopf
Übereinstimmungen entdeckte, begann mein Herz wie wild zu hämmern.
Der Levi Johnson, von dem in besagtem Artikel die Rede war, erreichte, noch keine vierzig, den Gipfel seiner Karriere. Dann machte eine schwere Depression seinen Auftritten ein jähes Ende und sorgte dafür, dass er sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückzog.
Im einzigen Interview, das er in der Folge gab, sagte er, er sehe sich nicht mehr als Violinisten, sondern als einen,der Geige spielt, und dass er völlig zufrieden sei, Geigenunterricht zu geben und auf Kreuzfahrten aufzutreten, wo ihm die Gäste beim Abendessen lauschten. Ja, er sei ein Gescheiterter, aber mittlerweile betrachte er sich als einen glücklichen Gescheiterten.
»Nach mehr als dreißig Jahren Bühnenabstinenz kehren Sie für einen Auftritt zurück«, fuhr der Journalist fort. »Hat vielleicht Ihr bester Freund Sie davon überzeugen können, der mit diesem Konzert die größten Jazzmusiker der Welt zusammenbringt? Das Théâtre du Châtelet ist bereits restlos ausverkauft. Glauben Sie nun, dass die wahren Jazzbegeisterten nie aufgehört haben, Ihre Musik zu hören, auch wenn sie Sie nie mehr live erleben durften?«
»Nein, natürlich haben sie aufgehört, meine Musik zu hören.«
»Aber bedauern Sie das nicht?«
»Das Schicksal wollte es nun einmal nicht, dass ich reich und berühmt blieb. Weil ich nicht dafür geschaffen und auch nicht gut genug für eine solche Karriere war. Auf den Kreuzfahrtschiffen verdiene ich ausreichend und habe Erfolg, einen Erfolg, der genau richtig für mich ist, auf einen Abend beschränkt, auf ein paar Stunden, ohne dass ich so tun muss, als wäre es für immer. Außerdem reise ich gern auf dem Meer. Die Schiffe bieten allen erdenklichen Luxus, wobei die Besatzung freilich nicht in diesen Genuss kommt, und ich bin Teil der Besatzung. Das Einzige, was mir missfällt, ist, dass es in meiner Kabine kein Tageslicht gibt, nichteinmal ein Bullauge, geschweige denn eine Tür zum Deck. Aber das offene Meer ist, vor allem bei Nacht, wunderschön. Man vergisst dann ganz, wer man war, wer man ist und wer man nach dieser Reise wieder sein wird. Kein Horizont ist zu sehen, und das eigene Leben ist plötzlich winzig klein und bedeutungslos. Aber dass ich durch kein Bullauge blicken kann, das stört mich.
Ich habe so viel über das Meer gelernt, denn auf dem Meer spürt man, dass man im Vergleich dazu völlig ohnmächtig ist. Manchmal ist mitten auf dem Ozean alles in leichten Dunst gehüllt, eine unglaubliche Stille hängt über dem Meer, ein silbriges Blau, doch schon im nächsten Moment kann sich das Wasser kräuseln und sich stahlblau verfärben, sich entfesseln und, wenn man so will, alles verschlingen und vertreiben, was eben noch da war.«
»Was missfällt Ihnen noch an Ihren Aufenthalten auf Kreuzfahrtschiffen, abgesehen von den fehlenden Bullaugen?«
»Mir gefällt nicht, dass der Kapitän jeden Morgen vorbeikommt, um zu überprüfen, ob unsere Kleidung auch vorschriftsmäßig ist, und mich wegen lächerlicher Kleinigkeiten rügt, zum Beispiel, wenn ich zwei verschiedene Socken trage oder mein Hemd nicht ganz richtig zugeknöpft ist.«
»Früher hätte es niemand gewagt, Sie aus derlei Gründen zu rügen.«
»Wenn man einmal reich war und wieder arm wird, betrachten einen die Menschen plötzlich mit ganz anderenAugen: Haben sie vorher in den merkwürdigen Dingen, die man tat, die freie Entfaltung des Genies gesehen, sind ihnen die gleichen Verhaltensweisen mit einem Mal lästig und unerträglich.«
»Betrachten Sie sich als einen glücklichen Menschen?«
»Ja, auf meine Weise bin ich glücklich.«
»Mir scheint, das Problem ist eher, ob die anderen mit Ihnen glücklich sind.«
»Ich wünschte, sie wären es.«
»Also sind sie es nicht?«
»Nein.«
Mittlerweile war ich mir sicher, dass es sich tatsächlich um ihn handelte, Mr. Johnson von oben, unseren Johnson senior, der zu Beginn des Interviews noch sehr gesprächig war, aber gegen Schluss in seine alte Gewohnheit verfiel, die Fragen wortwörtlich zu nehmen und nur noch einsilbig zu antworten. Und hier endete dann auch das Interview.
Der restliche Artikel befasste sich mit seinem Werdegang. Er war Sohn eines Cowboys aus Oklahoma und einer französischen Jüdin namens Micol Levi, die nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris auf Drängen ihrer Eltern aus der Stadt geflohen war. Sie hatte am Konservatorium Violine studiert und reiste mit nichts als ihrer Geige im Gepäck zu
Weitere Kostenlose Bücher