Die Welt auf dem Kopf
amerikanischen Verwandten, die dreißig Jahre zuvor infolge eines der zahlreichen Judenpogrome aus Osteuropa geflohen waren. 1910 waren diese Verwandten in die Vereinigten Staaten ausgewandert, während Micols Eltern undGroßeltern in Paris geblieben waren. In Oklahoma lernte Micol Johnson kennen, verliebte sich in ihn, sie heirateten und bekamen ein Kind, das sie Levi nannten, Micols Mädchenname. Mr. Johnson erzählte, dass die Ehe seiner Eltern glücklich gewesen sei. Da er 1941, kurz vor Pearl Harbor, geboren wurde, habe er seinen Vater erst nach Kriegsende kennengelernt.
Micol sollte ihre Familie, die in Paris geblieben war, nicht mehr sehen; doch hätten sie überlebt, hätten sie sie gewiss verstoßen, nachdem sie einen Goj geheiratet hatte, einen Nichtjuden.
Kaum hatte ich den Artikel fertig gelesen, rannte ich damit zu Anna hinauf. Während ich ihn ihr vorlas, zog sie eine Schnute.
»Warum machst du denn so ein Gesicht?«, fragte ich sie.
»Wer hätte denn so was gedacht. Und ich war so glücklich.«
»Und jetzt bist du es nicht mehr?«
»Johnson junior hat für uns alle Einladungen zu dem Konzert gebracht, auch für Nataschas Verlobten. Und sogar Flugtickets und eine Reservierung für drei Übernachtungen im Hotel. Paris! Stell dir mal vor. Und ich habe mich so gefreut. Ich habe es kaum erwarten können, es dir zu erzählen. Aber dieser Artikel zerstört alles.«
»Warum denn, um Himmels willen?«
»Weil ein Mann, der einmal ein berühmter Künstler war, bestimmt nichts mit mir zu tun haben will.«
»Soso. Und seine Mutter damals? Nicht nur, dass sie Jüdin war, sie stammte noch dazu aus Paris, wo sie Violine am Konservatorium studierte – was sollte eine solche Frau mit einem Cowboy aus Oklahoma anfangen? Und doch hatten sie, wie du ja eben gehört hast, eine glückliche Ehe.«
»Aber damals war Krieg. In Kriegszeiten ist alles auf den Kopf gestellt, und deshalb scheint alles normal, das hat mir meine Mutter erzählt. Außerdem ist es ihm egal, ob ich zu seinem Konzert komme, denn er hat gesagt, dass niemand glücklich mit ihm ist. Aber ich bin glücklich mit ihm, nur dass er es nicht gemerkt hat.«
»Wusstest du, dass seine Mutter Jüdin war?«
»Klar habe ich es gewusst.«
»Warum hast du es mir nicht erzählt?«
»Was gibt es denn da zu erzählen? Levi ist Levi, Jude hin oder her.«
»Ich dachte, seine Eltern hätten ihm diesen Namen einfach so gegeben, aus einer Laune heraus. Aber ist er auch ein religiöser Jude oder ist er Christ?«
»Das habe ich noch nicht herausgefunden, und fragen will ich ihn auch nicht. Du weißt ja, wie anstrengend es ist, Johnson senior Fragen zu stellen, seine Antworten fallen so knapp aus, weil er jede Frage wortwörtlich nimmt, und hinterher ist man genauso schlau wie vorher.«
»Isst er vielleicht kein Fleisch, weil es in Cagliari keinen koscheren Metzger gibt?«
»Das glaub ich nicht, nein, er ist Vegetarier, weil er esnicht erträgt, dass man Tiere zum Schlachter bringt. Als Kind musste er zusehen, wie die Rinder, die er so lieb gewonnen hatte, auf einem Lastwagen abtransportiert wurden, um getötet zu werden.«
»Aber vielleicht tut ihm auch die Erinnerung an die Großeltern mütterlicherseits weh, die ebenfalls in den sicheren Tod abtransportiert wurden. Also machst du ihm immer nur Omeletts?«
»Nein, ich mache nicht nur Omeletts.«
»Ist er eigentlich beschnitten?«
»Für wie dumm hältst du mich eigentlich, du neugieriges Wesen? Auf deine Fangfragen fall ich nicht herein.«
Auch Natascha nahm die Neuigkeit nicht gut auf. Sie freute sich zwar für Johnson senior und darüber, dass er uns alle ins Herz geschlossen hat, denn wir sind die Einzigen, die er eingeladen hat. Aber sie könne leider nicht mitkommen, fügte sie bedauernd hinzu. Denn dann würde ihr Verlobter mich kennenlernen und sich mit Sicherheit in mich verlieben. Natascha zufolge hat jede Liebe irgendwann ein Ende. Und als Beweis führte sie an, dass selbst die ihres Vaters zu dieser anderen Frau nicht von Dauer war. Oder die des besagten Kochs zu der jungen Kellnerin oder die des Malers zu der Frau mit dem Lippenstift. Ständig beteuert sie, dass sie einen weiteren Abschied nicht ertragen würde. Deswegen möchte sie unbedingt einen Weg finden, an eine Zyankalikapsel zu kommen, die sie in einem Pillendöschen an ihrer Halskette immer bei sich tragen kann. Aber nochweiß sie nicht, wie. Natascha ließ mich schwören, dass ich Johnson junior nichts davon sagen werde, weil er sie
Weitere Kostenlose Bücher