Die Welt auf dem Kopf
großes Vertrauen in Schutzengel, und der beste Beweis, dass es sie gibt, ist für ihn sein Vater, für den Johnson junior große Bewunderung hegt. Dessen Schutzengel ist ihm zufolge der fähigste, aber bestimmt auch der am meisten gestresste, wenn man bedenkt, dass er pausenlos im Einsatz ist, um die Zerstreutheit seines geliebten Schützlings Levi Johnson wettzumachen, auch wenn dieser nicht Christ, sondern Jude ist.
»Ach, was weiß jemand, der nie in die Kirche geht und so respektlos ist wie du, denn schon von Engeln!«, erwidert Anna dann.
»Vielleicht gehe ich nicht in die Kirche, weil sie selbst Gottes Gebote nicht respektiert? Der Kirche mangelt es an Achtung!«
Zuerst dachte ich, Johnson junior wolle Annina überzeugen, dass ihr noch ein langes Leben bevorsteht. Aber dasGegenteil ist der Fall. Er bereitet sie auf den Tod vor. Annina hat Angst, dass es das Jenseits gar nicht gibt. Jetzt, da sie nicht mehr arbeitet, hat sie Zeit zum Lesen, und in einer Zeitschrift stand, dass wir Menschen Gott nur erfunden hätten, weil wir den Gedanken an den Tod nicht ertragen. Und Annina findet, dass das gar nicht so abwegig ist, wenn man bedenkt, dass wir Menschen in der Lage sind, alles, was uns nützlich scheint, zu erfinden. War es nicht so mit dem Feuer, der Landwirtschaft, der Schrift, den Autos? Wieso also nicht auch mit Gott? Johnson junior, der von der Existenz Gottes überzeugt ist, widerlegte sie Punkt für Punkt. Ihm zufolge stimmt es zwar, dass die Menschen erfinden, was sie brauchen, aber bei näherer Betrachtung haben sie im Grunde nichts erfunden, was im Ansatz nicht schon da gewesen wäre. Wuchsen die Pflanzen nicht auch schon, bevor der Mensch anfing, sie anzubauen? Erzeugt nicht auch ein Blitzeinschlag Feuer? Und war die Sprache nicht lange vor Erfindung der Schrift da? Und die Kohle nicht lange vor der Erfindung der Dampfmaschine? Gut, räumte er ein, die Menschen erfinden zwar immer wieder etwas, jedoch nicht aus dem Nichts. Und weil wir Gott, lautete seine Schlussfolgerung, nicht aus dem Nichts erfunden haben können, muss er schon da gewesen sein, bevor wir ihn erfanden. Also existiert er auch!
Seit Anna ans Bett gebunden ist, liest sie nicht nur, sondern hält uns mächtig auf Trab. Ständig sagt sie: Hol mir dies, hol mir das.
Deswegen habe ich ausgiebig Gelegenheit, in der Holztruhemit den Märchenbüchern zu stöbern, und neulich entdeckt, dass Anna auch die Pornohefte dort aufbewahrt, zusammen mit der Reizwäsche, die sie anscheinend nach Gebrauch wieder in die Verpackungen zurückgesteckt hat.
Der Gedanke an Anna und ihre Reizwäsche, die jetzt zusammen mit den Märchenbüchern in der Holztruhe liegt, geht mir nicht mehr aus dem Kopf.
Denn das bedeutet, dass Anna tatsächlich diese Sachen gemacht hat, die auf den Abbildungen in den Pornoheften.
Hat sie es getan, um oben wohnen zu können?, frage ich mich. Und Johnson senior, hat er es nur gemacht, weil sie sich kostenlos zur Verfügung stellte?
Nein. Ich glaube nicht, dass sie Sex hatten, ohne dass auch ein bisschen Liebe dabei war. Johnson junior hat schon recht, dass es Sex ohne Liebe nicht gibt. Ihm zufolge reicht es, dass einer der beiden Beteiligten verliebt ist, und schon ist Liebe dabei.
Oft sagt er sinngemäß: »Viele denken, dass für uns Homosexuelle, nur weil wir uns nicht fortpflanzen, Sex nur ein Spiel ist. Aber wenn ich Sex habe, dann bin ich mit ganzem Herzen dabei, und das war schon immer so. Ich habe nur Sex, wenn ich verliebt bin. Auch du, Pasticcio, solltest es nur machen, wenn es für dich etwas ganz Großartiges bedeutet. Ansonsten mach es dir selbst. Du weißt doch, wovon ich rede, oder? Bestimmt hast du dir schon oft zu helfen gewusst.«
Inzwischen ist Anna ganz verwelkt, ihre Brüste sind verschrumpelt,nur ihr Blick ist immer noch strahlend, auch wenn sie einen aus tief verschatteten Augen ansieht.
Wie damals, als sie noch ein kleines Kind war, stehen ihr jetzt die Elefantenmütter aus der Marina wieder bei. Jeden Tag kommen sie, um zu waschen, zu bügeln, zu kochen, kurz und gut, um auf ihre jeweilige Art zu helfen, was bedeutet, dass Anna auf alle möglichen Arten und Weisen der Welt Hilfe zuteil wird.
Und ich bemühe mich, immer eine fröhliche Miene aufzusetzen, um sie ein wenig aufzumuntern, und wir lächeln uns schweigend an.
»Ich werde über dich schreiben«, sagte ich neulich zu ihr.
»Prima, dann werde ich nie sterben. Ach, unsterblich werden, wie wunderbar!«
»Ich werde einen Roman mit einem
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