Die Welt der Kelten
einen Ausdruck seiner eigenen Gefühle:
»Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt. Welch eine Welt, in die der Herrliche mich führt! Zu wandern über die Heide,
umsaust vom Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln die Geister der Väter im dämmernden Lichte des Mondes hinführt. Zu hören
vom Gebirge her, im Gebrülle des Waldstroms, halb verwehtes Ächzen der Geister aus ihren Höhlen, und die Wehklagen des zu
Tode sich jammernden Mädchens, um die vier moosbedeckten, grasbewachsenen Steine des Edelgefallnen, ihres Geliebten. Wenn
ich ihn dann finde, den wandelnden grauen Barden, der auf der weiten Heide die Fußstapfen seiner Väter sucht und, ach, ihre
Grabsteine findet und dann jammernd nach dem lieben Sterne des Abends hinblickt, der sich ins rollende Meer verbirgt, und
die Zeiten der Vergangenheit in des Helden Seele lebendig werden, da noch der freundliche Strahl den Gefahren der Tapferen
leuchtete und der Mond ihr bekränztes, siegrückkehrendes Schiff beschien. Wenn ich den tiefen Kummer auf seiner Stirn lese,
den letzten verlassenen Herrlichen in aller Ermattung dem Grabe zuwanken sehe …« – dann möchte Werther gleich einem edlen
Waffenträger das Schwert ziehen, seinen Fürsten von der Qual des langsam absterbenden Lebens auf einmal befreien und dem befreiten
Halbgott |218| seine eigene Seele nachsenden. Als Werther der unglücklich geliebten Lotte die von ihm übersetzten Gesänge Ossians vorliest,
übermannen ihn seine Gefühle, »ein Schauer überfiel ihn, als er sie in die Hände nahm, und die Augen standen ihm voll Tränen,
als er hineinsah«. Und während seiner Lesung bricht auch aus Lottes Augen »ein Strom von Tränen«.
Der junge Goethe war nur einer von unzähligen europäischen Künstlern und Intellektuellen, die von Ossian ergriffen wurden
und dem Stoff Übersetzungen, Nachdichtungen, Liedvertonungen, Opern und Bilder widmeten. Dass sogar ein politischer Machtmensch
sich dem Fieber der Begeisterung um den keltischen Barden nicht entziehen konnte, bewies Napoleon, General, Konsul und Kaiser
der Franzosen: Er schätzte nicht nur Goethes
Werther
über alles, sondern auch die Gesänge Ossians.
Es tat dem allen keinen Abbruch, als sich im Laufe der Jahrzehnte herausstellte, dass die
Works of Ossian
mitnichten originale Lieder aus dem 3. Jahrhundert waren. James Macpherson – mittlerweile zu Ruhm und Reichtum gelangt – hatte
sie sehr frei nachgedichtet und dafür auf irische Heldengestalten zurückgegriffen: Aus der populären Sagenfigur des Kriegers
Finn mac Cumaill und seinem Sohn Oisín machte er Fingal und Ossian, der jugendliche Kämpfer CúChulainn diente dem literarischen
Heerführer Cuthullin als Vorbild. Um diese Figuren hatte der schottische Lehrer eine Geschichte erdichtet – im Übrigen auf
Englisch, denn gälische Originale existierten nicht. Erst später übersetzte man die englischen Kunstlieder in die keltische
Sprache Schottlands.
Letztlich verzieh die Öffentlichkeit Macpherson seinen Schwindel. Denn er hatte ein Erfolgsrezept entdeckt, von dem er ursprünglich
selbst nichts ahnte. Er griff auf schottisch-keltische Motive zurück und verband sie mit der oben angesprochenen Stimmung
einer elegischen Melancholie, die der originalen keltischen Überlieferung fremd war. Damit traf er genau den vorherrschenden
sentimentalen Zeitgeist, den er schlichtweg auf die 1500 Jahre zurückliegende Vergangenheit projizierte. Seitdem verband man
die nebelverhangenen Buchten und Berge Schottlands mit den gefühlsbetonten Vorstellungen über die Kelten der Britischen Inseln.
Walter Scott und die Highland-Romantik
Macphersons
Works of Ossian
lenkt das Interesse auf das ursprüngliche keltisch-gälische Schottland, dessen Volkslieder und Balladen zusehends gesammelt
wurden und Nachdichtungen erlebten. Allerdings sorgten im Zeitalter der Romantik vor allem die historischen Romane Sir Walter
Scotts (1771 –1832) für die weiter wachsende Begeisterung an schottischen |219| Motiven. Der Anwalt aus Edinburgh wurde weit über seine Heimat hinaus ein früher Bestsellerautor, dessen 1820 erschienener
Ivanhoe
die Zeit der Kreuzzüge aufgriff und noch immer bekannt ist.
Bereits zehn Jahre früher hatte die Verserzählung der
Dame vom See
(
The Lady of the Lake
) der Schottland-Begeisterung einen unerhörten Aufschwung gebracht. In der im 16. Jahrhundert angesiedelten Handlung stehen
die Auseinandersetzungen zwischen dem schottischen
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