Die Welt der Kelten
Dementsprechend scheinen
sämtliche Naturgesetze auf den Kopf gestellt zu sein.
Zu den wunderlichsten Wesen des »Wunderlandes« gehört die Cheshire-Katze (Grinsekatze), die sich durch ein beständiges breites
Grinsen auszeichnet und ihre Welt derart kommentiert: »Hier sind alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt.« Diese
Katze besitzt eine weitere außergewöhnliche Eigenschaft, taucht sie doch mehrmals wie aus dem Nichts auf, in das sie ebenso
wieder entschwindet. Nachdem dies mehrmals geschehen |221| ist, beobachtet Alice, wie sie ganz allmählich verschwindet, »von der Schwanzspitze angefangen bis hinauf zu dem Grinsen,
das noch einige Zeit zurückblieb, nachdem alles andere schon verschwunden war«. Betrachter der La Tène-Kunst, die in den letzten
Jahrhunderten vor Chr. den Höhepunkt der keltischen Kreativität darstellte, verwiesen auf die Ähnlichkeiten zwischen deren
Zeugnissen und der mehr als 2 000 Jahre jüngeren Cheshire-Katze des Lewis Carroll. Auch die frühgeschichtlichen keltischen
Künstler ließen Motive wie Menschenköpfe, Dämonen, Tiere und maskenhafte Fratzen in den Ornamenten auftauchen, verschwinden
und sich verwandeln.
In einem zweiten Band mit den Abenteuern der kleinen Alice unter dem Titel
Alice hinter den Spiegeln
oder
Through the Looking Glass
muss sich die Heldin in einem Spiegelland voller Absurditäten und Doppeldeutigkeiten durchschlagen, in dem sie Teil eines
Schachspiels wird. In diese Anderwelt gelangt man nicht durch ein Kaninchenloch, sondern durch einen Zaubernebel, wie er auch
in schottischen Märchen bekannt ist: »Tun wir doch so, als ob aus dem Glas ein weicher Schleier geworden wäre, dass man hindurchsteigen
könnte. ›Aber es wird ja tatsächlich zu einer Art Nebel! Da kann man ja mit Leichtigkeit durch –‹, und während sie das sagte,
war sie schon auf dem Kaminsims, sie wusste selbst nicht wie, und wirklich schmolz das Glas dahin, ganz wie ein heller, silbriger
Nebel.«
Erzählungen dieser Art wurden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Markenzeichen britischer Schriftsteller – bis
heute. Zu ihnen gehörte der weithin wenig bekannte Schotte George MacDonald (1824 –1905), der mit Lewis Carroll befreundet
war. Er verfasste etliche Kinderbücher, Märchen und Romane, deren Helden ebenfalls in rätselhafte Wunderwelten vordringen.
Doch wo Carroll sich augenzwinkernd über die zeitgenössische viktorianische Gesellschaft Englands lustig macht, führt MacDonald
die Leser in völlig fremdartige, mythisch anmutende Anderwelten, zum Beispiel in
Die Prinzessin und der Kobold
. Carroll wie MacDonald legten den Grund für jenes fantastische Erzählen, das offensichtlich keltisches Erbe aufnahm, verarbeitete
und weitergab.
Die »Rückkehr« der Druiden
Die wachsende Beschäftigung mit der Vergangenheit und ihrem den Kelten zugeschriebenen Erbe sollte nicht nur einen Niederschlag
in den Künsten finden. Das, was die antiken Geschichtsschreiber über die Gallier mitteilten, erweckte ein ebenso großes Interesse
an typischen Bräuchen und Einrichtungen der vermeintlichen Vorfahren. Dabei ging von den Druiden die intensivste Faszination
aus, glaubte man doch in ihnen weise Priester und |222| Philosophen entdeckt zu haben. Sie schienen den Denkern der Griechen oder den weisen Brahmanen der Inder ebenbürtig, wenn
nicht überlegen gewesen zu sein. Deshalb vermischten sich seit dem 17. Jahrhundert in den britischen Ländern und anderen Teilen
Europas verschiedene Vorstellungen zum Druidenklischee, das noch heutzutage vorherrscht. Dazu gehörten die weiße Druidentracht,
die bereits des Öfteren erwähnte Verbindung mit dem Stonehenge-Monument und die Vorstellung Merlins als berühmtesten Priester
und Magier.
Eine wahre Druidenbegeisterung fand Unterstützung in der Ossian-Mode und in der romantischen Vorliebe für das Nordeuropäische,
sei es Keltisch oder Germanisch. Die Grenzen zwischen beiden Völkergruppen verliefen beliebig, sodass ein keltischer Druide
durchaus ein Priester des germanischen Gottes Wodan sein konnte. Einen viel gehörten und -gesehenen Ausdruck hat das seinerzeit
moderne Druidenbild in der romantisch-tragischen Oper
Norma
des Italieners Vincenzo Bellini gefunden, die 1831 an der Mailänder Scala uraufgeführt wurde. Ihre Heldin wird im römisch
besetzten Gallien in die Auseinandersetzungen zwischen den Legionären und den einen Aufstand vorbereitenden Galliern
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