Die Welt der Kelten
Geister daheim seien, wie er sich
sagte. Als er ihm in den Schacht nachschaute, kam der Stein mit ungeheurer Wucht zurückgeschossen und traf ihn mit solcher
Gewalt im Gesicht, dass er Hals über Kopf den ganzen Abhang hinabrollte: »Am folgenden Morgen fand man Caroll O’Daly neben
seinem Pferd liegend, seine Haut war geschunden und zerrissen, die Augen geschlossen, und die eingedrückte Nase entstellte
ihn auf sein Lebtag.«
Somit erweist sich auch die biedermeierlich-possierliche Gestalt der Elfen als äußerst trügerisch. Nichtsdestotrotz bietet
sie heutzutage das weit verbreitetste Bild jener überirdischen Geschöpfe der inselkeltischen Fantasie, deren Gestalten mannigfaltige
Formen annehmen konnten. Aber in Irland blieb der ursprüngliche Elfenglaube zu Hause, und mit den Millionen irischer Auswanderer
kam er sogar nach Nordamerika und in andere Teile der Welt – wofür Halloween das bezeichnendste Beispiel bietet. Die geistige
Welt der Inselkelten erschloss ihren Geschöpfen sogar neue Gebiete und ließ sie nach Amerika fahren. Darüber erzählte man
sich Märchen wie das von Seán Palmer, der mit den Elfen respektive Feen über den Atlantik reiste:
Er vermisste nämlich eines Abends seinen geliebten Tabak so sehr, dass ihm das Abendessen gleichgültig wurde. Gegen die Einwände
seiner Frau machte er sich auf den Weg ins nächste Dorf, um sich dort Tabak zu kaufen. Und so ging er nur mit Jacke und Hose
bekleidet los. Auf der Straße begegnete er zwei unbekannten Männern, die nicht nur seinen Namen kannten, sondern auch wussten,
dass er Tabak holen wollte. Sie verwiesen ihn auf ein kleines Boot unten am Kai, in dem zwei Männer ihm sicherlich etwas geben
könnten. Seán ging zu ihnen und fragte höflich nach Tabak, der ihm freundlich gewährt wurde. Er solle nur an Bord kommen und
sich schon eine Pfeife stopfen. Bald saß er so zufrieden in seinem Tabakqualm, dass er kaum wahrnahm, wie die beiden anderen
Männer von der Straße ins Boot stiegen und wie die Segel gehisst wurden.
Während das Boot nur so übers Wasser schoss, sprachen weder die vier Männer noch Seán ein Wort. Wenig Zeit war verstrichen,
als sie Lichter erblickten. Als sich der Gast an Bord fragte, zu welchem Ort sie gehörten, antwortete einer der Männer, sie
hielten auf den Kai von New York zu und würden gleich anlegen. In seiner ärmlichen Kleidung ging Seán verwirrt an Land. Zwei
der Männer aus dem Boot nahmen sich seiner an und begleiteten |213| ihn durch die riesige Stadt. Sie rieten ihm, Verwandte und alte Freunde zu besuchen, die nach Amerika ausgewandert waren.
Alle freuten sich über den unerwarteten Besucher aus der Heimat, und Seán kehrte schließlich reich beschenkt zu dem kleinen
Boot zurück: Er trug einen feinen Anzug, hatte etliche Dollarscheine in der Tasche und nannte nun ein ganzes Tabakkistchen
sein Eigen.
Seine vier Begleiter hatten es sehr eilig, liefe doch, wie sie meinten, ihre Zeit ab und man müsse alle Segel setzen. Schnell
schoss das Boot aufs Meer hinaus und schon bald erkannte man die heimatlichen Lichter Irlands. Als Seán ausgestiegen war,
drehte er sich um und wollte sich bei den Männern bedanken. Doch weit und breit konnte er kein Boot mehr sehen, das wie vom
Meer verschlungen schien. Als er nach Hause ging, hörte er die Hähne krähen. Und in der Tat war in der Zwischenzeit lediglich
die Nacht vergangen, sodass seine Frau vermutet hatte, er habe im Dorf noch Karten gespielt.
Trotz der vielen Geschenke wollte sie seinem Bericht von der Reise nach New York lange nicht glauben. Erst als Briefe der
Verwandten in Amerika Seáns Besuch bestätigten, wurde allen klar, dass er nur durch die Hilfe der Feen diese fantastische
Reise unternommen haben konnte.
|214| 9. Die Kelten in der Neuzeit – Von Ossian und Highland-Nebeln
Die Wiedergeburt einer verschwundenen Kultur
In der Epoche der Renaissance, die zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert das Kultur- und Geistesleben vieler europäischer Länder
prägte, erfuhr die antike Vergangenheit eine Wiedergeburt – so die Bedeutung des französischen Wortes –, die sich bis heute
auswirkt. Nachdem als Erste italienische Dichter und Gelehrte die griechische und römische Geschichte und Kunst gleichsam
wiederentdeckten, folgten ihnen die so genannten Humanisten nördlich der Alpen. In den Bibliotheken fand man alte Handschriften
mit den Werken antiker Autoren wie Caesar und Tacitus. Aus ihren
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