Die Welt der Kelten
Schriften zogen die Gelehrten Schlüsse mit weit reichenden
Konsequenzen: Wo die Italiener in den ruhmreichen Römern ihre Vorfahren sahen, führte man sich im Norden auf die einst gefürchteten
Gallier und Germanen zurück. Letztere wurden zu den Vorvätern der Deutschen erklärt, während sich die Franzosen als Nachfahren
der Gallier sahen. Und die in ihrer Mehrzahl stark alemannisch – also germanisch – geprägten Schweizer Kantone entdeckten
in Caesars
Bellum Gallicum
jene mutigen Helvetier für sich, die Rom blutig unterlegen waren. Mit dem Namen der einstmals erschreckenden Belger sollte
später sogar eine ganze Nation bezeichnet werden, als sich 1831 die Provinzen der bis dahin so genannten südlichen Niederlande
um Brüssel, Gent und Namur als Belgien für unabhängig erklärten.
Seit den Entdeckungen der Renaissance kannte man die Namen der Gallier respektive Kelten und ihrer zahlreichen Stämme und
man wusste zumindest von den Ereignissen ihrer Geschichte, die Caesar und andere antike Autoren schilderten. Richtige archäologische
Zuordnungen konnten allerdings erst viel später vorgenommen werden. Bis ins 19. Jahrhundert behalfen sich die Gelehrten mit
größtenteils fantasievollen Erklärungen, was denn als keltisches Erbe angesehen werden könnte. Die bis in die Gegenwart beliebteste
Fehlinterpretation galt der jungsteinzeitlichen Stonehenge-Anlage in Südengland, die man als Heiligtum der Druiden ansah.
Doch bei allem wachsenden Interesse an dem antiken Barbarenvolk |215| stand es lange völlig außer Frage, dass es Kelten und ihre Nachfahren nur auf dem europäischen Festand gab. Erst als sich
Forscher mit den wenigen Resten des Gallischen beschäftigten und die Sprachen der Iren, Schotten, Waliser und Bretonen untersuchten,
fiel ihnen auf, dass sie starke Gemeinsamkeiten aufwiesen und offensichtlich alle zur keltischen Sprachfamilie gehörten. Die
Kelten waren demzufolge nicht nur ein untergegangenes Volk der Antike, sondern lebten am Nordwestrand Europas noch immer.
Diese Erkenntnis setzte sich ausgerechnet unter den Inselkelten nur langsam durch, vor allem bei den Iren: Sie, die heute
als Kelten par excellence gelten, identifizierten sich letztlich erst im 19. Jahrhundert mit diesem Begriff. Was also neben
den archäologischen Funden das typische Keltische ausmacht, beruht auf einer verhältnismäßig jungen Erkenntnis und Identifikation.
Seitdem gelten die Sprachen und Bräuche der betreffenden Völker als keltisch. Doch schon zuvor war man der eigenen Geschichte
und Kultur nachgegangen. In Irland beschäftigte man sich mit der alten Ogam-Schrift und ahmte den Stil frühmittelalterlicher
Handschriften nach. Dort wie in Schottland erwachte das Interesse an Harfenmusik, worauf kostbare Instrumente gefertigt wurden.
Sie gelten wie etwa die Brian-Boru-Harfe in Dublin als nationale Schätze. Seit dem 18. Jahrhundert widmete man sich besonders
auf der grünen Insel und in Wales der Pflege kultureller Traditionen, was zu einer – später so genannten – keltischen »Wiedergeburt«
führte. Ein neu erwachtes Bewusstsein behauptete mit Mühe die eigene Sprache gegen das übermächtige Englisch. Walisische Poeten
belebten beispielsweise im 19. Jahrhundert das Eisteddfod wieder, das als großes Dichtertreffen noch immer in Form sommerlicher
Literatur- und Musikfestspiele begangen wird.
Das schottische Hochland galt als Heimat lebendiger Traditionen, wofür das Clanwesen stand. Unter diesem Begriff fühlten sich
Menschen einander zugehörig, weil sie sich auf einen gemeinsamen Ahnherrn zurückführten und diese Beziehung durch einen Gemeinschaftsnamen
ausdrückten, dem das typische
Mac
für »Sohn« vorausging. An ihrer Spitze stand seit alters her ein Häuptling. Mit der keltischen Renaissance sah man in der
bodenständigen Institution des Clans ein Fortleben der Stammesgliederung, wie sie schon aus der Antike überliefert wurde.
Während demnach die Clans sehr alt sind, kam der berühmte Schottenrock, der Kilt, mit seinen clanspezifischen Farben erst
im 18. Jahrhundert auf.
Ob zu Recht oder nicht – das Keltische erblickte man zunehmend bei den Inselkelten und deren Sitten und Gebräuchen. Es drückte
sich im irischen Elfen- und bretonischen Feenglauben aus, in der Harfenmusik und in den stimmungsvollen Landschaftsbildern
des kargen schottischen Hochlands, der walisischen Berge oder der irischen Einsamkeit.
|216| Ossian: das Keltische als
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