Die Welt der Kelten
Mode
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfreuten sich inselkeltische Motive und Stoffe in Europa so großer Beliebtheit,
dass man von einer regelrechten Modeerscheinung sprechen kann. Deren Ursachen lagen einerseits in einem neuen Zeitgeist, der
sich von der Vernunftbetonung der Aufklärung distanzierte. Englische Dichter und ihr Publikum begannen damit, Interesse an
der Vergangenheit des Mittelalters zu zeigen und alte oder wieder errichtete Burgen ebenso zu schätzen wie die Geschichten
darüber. Gleichzeitig wollte man mehr von den Überlieferungen des einfachen Volkes wissen, seien es dessen Lieder oder Märchen.
Dem kam zu Gute, dass in Frankreich Jean-Jacques Rousseau das Bild des edlen Wilden schuf, das im Barbaren das Vorbild eines
einfachen und glücklichen Lebens sah. Auch in Deutschland nahm man zusehends Abstand von der nüchternen Sachlichkeit der Aufklärung.
Die Dichter des Sturm und Drang schufen einen Kult um das menschliche Gefühl – nicht Verstand war gefragt, sondern Emotionen,
nicht der kluge Poet, sondern das stürmische Genie. In dieser Zeit trafen sich die Gebildeten an den kleinen deutschen Höfen
und in den gediegenen Bürgerhäusern, lasen einander vor und rezitierten empfindsame Gedichte. Wenn allesamt darauf in Tränen
der Rührung ausbrachen, mussten sich weder Frauen noch Männer genieren; es gehörte gewissermaßen zum guten Ton.
Damals war unter der europäischen Bildungsschicht die Zeit reif für die große Dichtung, die die Herzen massenhaft bewegte
und eine Welle ungeahnter Gefühle auslöste. Der Mann, dem dies gelingen sollte, war der Schotte James Macpherson (1736 –1796),
der aus dem Hochland stammte und seinen Lebensunterhalt als Dorf- und Hauslehrer bestritt. Er hatte zu Beginn der sechziger
Jahre des 18. Jahrhunderts einige längere Gedichte veröffentlicht, die er nach eigenem Bekunden unter der Bevölkerung der
Highlands gesammelt und schließlich aus dem Gälischen ins Englische übersetzt hatte. Ursprünglich sollten sie das Werk eines
keltischen Barden aus der Zeit um 300 nach Chr. sein. Im Jahr 1765 erschienen sämtliche dieser
Works of Ossian
, der Gedichte des alten gälischen Barden Ossian.
Dieser zieht als blinder Greis über das Hochland, ein Sohn des schottischen Königs Fingal und der letzte Überlebende aus dessen
heldenhafter Kriegerschar. Sogar den Tod des eigenen Sohnes Oscar musste Ossian erleben, den nun seine Schwiegertochter Malvina
umherführt – der einzige ihm verbliebene Trost. Er besingt auf der Harfe die Kämpfe und Heldentaten jener Zeiten, in denen
sein Vater dem irischen König Cormac und dessen Heerführer Cuthullin gegen einfallende Nordmänner beistand. Kämpfe, Schicksalsschläge
und dramatische Verstrickungen gibt es in Ossians Gesängen zuhauf. Aber mehr als die – für den modernen Geschmack |217| – schwülstig und trivial geschilderte Handlung beeindruckte die Leser des 18. Jahrhunderts jene melancholische Stimmung, die
der rauen und nebelverhangenen Landschaft des Nordens zu entsprechen schien. Aus den Wolken blicken die Geister der Vorväter
herab und empfangen den gefallenen Helden.
Wer noch lebt, gibt sich elegischen Gedanken dieser Art hin: »Ich sitz’ bei der moosigten Quelle; am Gipfel des stürmischen
Hügels. Über mir braust ein Baum. Dunkle Wellen rollen über die Heide. Die See ist stürmisch darunter. Die Hirsche steigen
vom Hügel herab. Kein Jäger wird in der Ferne geseh’n. Es ist Mittag, aber Alles ist still. Traurig sind meine einsamen Gedanken
…« Die heroische Landschaft Schottlands, die Schicksalsträchtigkeit des Geschehens, der elegische Grundton und das zutiefst
melancholische Leitmotiv trafen den Nerv der Zeit, die all dies mit dem Namen Ossians verband und auf ihre Gefühle und Sehnsüchte
bezog.
Deshalb las man den Ossian überall in Europa und nahm ihn als Stimme einer längst vergangenen Zeit, in der die Dichter den
Ton der Natur trafen und damit authentisch waren. Der keltische Barde drückte die Gefühle und Empfindungen der modernen Menschen
des 18. Jahrhunderts aus, die ebenso authentisch sein wollten. Zu den unzähligen Begeisterten gehörte der junge Johann Wolfgang
von Goethe, der Ossian in seinem Erfolgswerk
Die Leiden des jungen Werthers
gebührende Referenz erwies. Der Held dieses 1774 erschienenen Romans, der an sich, der Welt und einer unglücklichen Liebe
leidet, findet in der keltisch-schottischen Dichtung
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