Die Welt der Kelten
vermutete man ihn in verborgenen Gewölben, verwitterten Burgruinen oder einsamen Kapellen. Die Zahl der Gegenstände,
in denen der Gral gesehen wurde, ist Legion: unter anderem ein Kelch im spanischen Valencia, ein Holzgefäß in Nordwales und
eine Bronzeschale in Glastonbury, wohin der Gral nach der literarischen Überlieferung aus dem Heiligen Land gebracht wurde.
Die Gralssuche begann mit einem französischen Buch des Chrétien de Troyes, das den bezeichnenden Titel
Die Geschichte des Gral
trug und um 1190 geschrieben wurde. Dessen Held ist der junge Perceval, Parzival, den seine Mutter fern der höfischen Etikette
und des ritterlichen Lebens aufzieht, um ihn vor dem Tod im Kampf zu bewahren. Denn nicht nur ihr Mann, sondern auch ihre
Brüder verloren als Ritter ihr Leben. Als dem |162| Jüngling jedoch eines Tages Ritter begegnen, bricht er trotz aller Klagen der Mutter zu König Arthurs Hof auf. Dort wird der
bäuerlich aufgewachsene und höfisch ungebildete Perceval zum Inbegriff des tumben Tors, der Ritter werden will. Mit seiner
Beherztheit erwirkt er dennoch den Ritterschlag und begibt sich auf die Suche nach seiner Mutter. Dabei besteht er viele Abenteuer
und begegnet zum ersten Mal dem Gral.
Auf dem Ritt durch einen Wald gelangt er an einen reißenden Fluss, den er mit der Hilfe eines Fischers überquert. Dieser Mann
setzt ihn nicht nur über, sondern lädt ihn auch in eine benachbarte Burg ein. Inmitten der Wildnis macht sich der Ritter dorthin
erfreut auf den Weg und gelangt schließlich zu einer prächtigen Feste. Perceval wird in eine Halle geführt, wo ihn der hilfsbereite
Fischer begrüßt – er ist der Herr und König der Burg. Der offensichtlich kranke und leidende Mann schenkt seinem Gast ein
Schwert, das von außergewöhnlicher Stärke und Schärfe ist. Anschließend beobachtet Perceval eine seltsame Prozession: Ein
Knappe zieht durch den Saal mit einer Lanze, von deren Spitze Blut tropft. Auf zwei weitere Knappen, die Leuchter tragen,
folgt ein Edelfräulein. Sie trägt einen so genannten Gral in Händen, eine goldene, mit Edelsteinen verzierte Schale. Ein zweites
Fräulein bringt eine silberne Platte. Dieser mysteriöse Zug verlässt die Halle, nimmt aber während des Mahls bei jedem neuen
Gang seine Prozession wieder auf. Perceval glaubt sich höflich zu verhalten, indem er dem König zu dem rätselvollen Geschehen
keine Fragen stellt. Als er am nächsten Morgen erwacht, scheint die Burg menschenleer zu sein. Nachdem er sie über die Zugbrücke
verlassen hat, wird diese wie von Geisterhand hinter ihm hoch gezogen.
Später erfährt der junge Ritter, welche Fehler er begangen hat: Er hätte den so genannten Fischerkönig nach seinem Leiden
fragen und ihm sein Mitleid zeigen müssen; außerdem hätte er den Sinn des Grals erfragen müssen. Dadurch wäre der kranke Herrscher
geheilt und gerettet worden, doch nun käme sogar Schaden über das Land. Trotz dieser Erklärungen bleibt die letztendliche
Bedeutung des Grals im Dunklen. Gewiss ist nur, dass er mit bestimmten Fragen und Ritualen verbunden wird. Als Perceval davon
erfährt, macht er sich auf die Suche nach dem Zauberding und viele Ritter der Tafelrunde folgen ihm.
Ebenso folgten Chrétien die mittelalterlichen Dichter, die das Gralsmotiv immer wieder aufnahmen und ausschmückten. Seine
reiche Symbolik und Bildersprache konnte nie vollständig entschlüsselt werden. Zweifelsohne wird sie von christlichen Vorstellungen
bestimmt, wonach der leidende König Christus ist, während die Lanze an jene Waffe erinnert, mit der er am Kreuz verwundet
wurde. Aber andererseits zeigt das Geschehen um die geheimnisumwitterte Gralsburg große Ähnlichkeit mit keltischen Erzählungen
und Vorstellungen. Dementsprechend wirkt Percevals Ritt |163| zur Burg wie eine Reise in die Anderwelt, jenes mystische Land, das neben der Menschenwelt existiert.
In Irland erzählte man sich lange vor Chrétien eine Geschichte von der
Weissagung des Phantoms
. Darin tritt der König Conn Cétchathach in seiner Residenz Tara auf den magischen Stein Fál, der daraufhin laut aufschreit.
Die Berater des Herrschers deuten die Schreie als Prophezeiung der Nachfolger Conns. Dann tut sich plötzlich ein Zaubernebel
auf, und die Männer finden sich in einer Ebene mit einem goldenen Baum. Ein geheimnisvoller Reiter führt sie in sein Haus,
wo auf einem Kristallthron eine junge Frau sitzt, die die Herrschaft über Irland
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