Die Welt der Kelten
So lässt sie
Merlin eingeschlossen zurück. Der Zauberer bleibt für immer in seinem Steingrab gefangen, und draußen vernimmt man seine Weissagungen,
ohne dass ihm Hilfe gebracht werden könnte.
Wegen dieser List der Fee verschwindet Merlin schon bald aus Camelot und dem Umkreis der Tafelrunde. Eine bedeutendere Rolle
als bei Malory spielte er bei den französischen Dichtern des Mittelalters, die ihn zu dem machten, als was er berühmt wurde
– der weise Zauberer und Berater König Arthurs, der ihn und seine Ritter durch viele Gefahren zu lenken weiß. Dabei gilt Merlin
als verrufen, weil er der Sohn einer Königstochter und eines Teufels ist, der sie ohne ihr Wissen schwängerte. Als halber
Mensch und halber Dämon verfügt er über die Gaben der Prophetie und der magischen Künste. Die französische Vorliebe für den
Zauberer trug dazu bei, seine Figur aufs Engste mit der bretonischen Sagenwelt zu verknüpfen, wonach sein Gefängnisgrab und
die Quelle der feenhaften Viviane im Wald von Brocéliande zu suchen sind.
|159| Doch als eigentlicher Schöpfer der Merlinfigur gilt wiederum Geoffrey von Monmouth. In der
Geschichte der Könige Britanniens
führt er den Zauberer in einer seltsamen Episode ein. Darin erzählt er von dem britannischen König Vortigern, der vor den
von ihm selbst gerufenen Sachsen nach Wales floh. Dort rieten ihm seine Wahrsager, einen befestigten Turm zu errichten, der
ihm als letzte Zuflucht dienen konnte. Aber jedes Bauwerk, das er auf dem dafür vorgesehenen Berg errichtete, versank in der
Erde. Daraufhin empfahlen ihm die Ratgeber, er möge einen vaterlosen Jüngling suchen, ihn töten und mit seinem Blut Steine
und Mörtel besprengen. Schließlich fand man den jungen Merlin und brachte ihn mit seiner Mutter zu Vortigern. Doch der Junge
konnte sein Leben retten, indem er erklärte, warum alle Türme einstürzten. Denn dort gebe es einen Sumpf unter der Erdoberfläche
und darunter schliefen zwei Drachen. Als man die Stelle ausgrub, erwachten die Drachen und fielen sofort übereinander her.
Der König forderte Merlin auf, ihm dies zu deuten – womit Geoffrey viele Prophezeiungen beginnen lässt. Dazu gehört auch das
Sinnbild des Drachenkampfes: Der weiße Drache stehe für die germanischen Sachsen, der rote symbolisiere die keltischen Britannier,
die einst den Sieg erringen würden.
Weiterhin weissagte der Jüngling Vortigern, er werde von seinen Feinden im Turm verbrannt werden – was tatsächlich geschah.
Der neue Herrscher beauftragte Merlin, eine würdige Gedenkstätte für die Toten zu erbauen. Daraufhin begab sich der Seher
mit Arthurs Vater Uther Pendragon und 15 000 Männern nach Irland, um von dort Steine für das Denkmal zu holen. Aus ihnen errichtete
er angeblich die monumentale Kultstätte von Stonehenge. Mit diesem fiktiven und historisch unbegründeten Motiv, das sich Geoffrey
vermutlich ausdachte, legte der Verfasser den Grund für die vielerorts bis heute herrschende Anschauung, Merlin respektive
die Druiden seien die Schöpfer der jungsteinzeitlichen Anlage.
Der Waliser Gelehrte aus Monmouth gewann durch die Gestaltung König Arthurs unsterblichen Ruhm, obwohl er sich mit der Figur
Merlins viel intensiver beschäftigte und zwei Bücher über ihn schrieb. In einem verkündet er die angeblichen Prophezeiungen
des Weissagers, die allerdings – nach allem, was man weiß – Geoffreys Feder und Fantasie entsprangen. Da sie den englischen
Königen eine glückliche Zukunft verhießen, erfreuten sie sich in Britannien großer Beliebtheit. In den folgenden Jahrhunderten
wurden sie in vielen europäischen Ländern so populär, dass sie schließlich die Katholische Kirche auf ihren Index verbotener
Schriften setzte.
Überdies verfasste Geoffrey eine
Vita Merlini
, eine Lebensbeschreibung Merlins, deren Held sich in vielen Zügen von Arthurs Zauberer unterscheidet. Dies rief schon unter
den Zeitgenossen Verwirrung hervor und veranlasste sie zu der Bemerkung, der Waliser habe eigentlich zwei Merlingestalten
geschaffen. Der zweite Merlin regierte als britannischer König ein |160| Reich im Norden Englands, das in heftige Fehden und Kämpfe mit anderen Häuptlingen verstrickt war. Nach einer besonders blutigen
Schlacht sah Merlin seine Verwandten und die treuen Gefolgsmänner niedergemetzelt liegen. Dieser Anblick erschütterte ihn
so stark, dass er darüber wahnsinnig wurde: »Drei Tage lang hatte er nun schon geweint
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