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Die Welt ohne uns

Die Welt ohne uns

Titel: Die Welt ohne uns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Weisman
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Strahlung, die hundert bis dreihundert Mal so stark war wie die der Hiroshima-Bombe. In den hastig errichteten grauen »Sarkophag« – den klotzigen, fünf Stockwerke hohen Sicherheitsbehälter, der so oft geflickt und ausgebessert war wie der rostige Rumpf eines alten Seelenverkäufers – hatte die Radioaktivität zahlreiche Löcher gefressen, sodass jetzt Vögel, Nager und Insekten darin nisteten und der Regen durchsickerte.
    Die »Entfremdungszone«, ein evakuiertes kreisförmiges Gebiet mit einem Radius von dreißig Kilometern rund um das Kraftwerk, ist zur größten radioaktiven Müllhalde der Welt geworden. Zu den Millionen Tonnen vergrabenem aktivem Abfall gehört ein ganzer Kiefernwald, der binnen weniger Tage nach der Explosion abstarb und nicht verbrannt werden konnte, weil sein Rauch tödlich gewesen wäre. Der Zehn-Kilometer-Radius um Ground Zero, die Plutoniumzone, ist noch strenger abgesperrt. Alle Fahrzeuge und Geräte, die für die Aufräumarbeiten eingesetzt wurden, etwa die riesigen Kräne, die über dem Sarkophag aufragen, sind zu radioaktiv, um aus der Zone entfernt werden zu können.
    Trotzdem sitzen Lerchen auf den verstrahlten Auslegern der Kräne und singen. Unmittelbar nördlich vom zerstörten Reaktor haben Kiefern wieder ausgetrieben, allerdings überlange, unregelmäßige Triebe mit Nadeln von unterschiedlicher Länge. Trotzdem, sie sind lebendig und grün. Etwas weiter entfernt haben sich Wälder, die überlebt haben, schon Anfang der neunziger Jahre wieder mit Rehwild und Wildschweinen bevölkert. Dann kamen Elche, Luchse und schließlich Wölfe hinzu.
    Deiche haben den Fluss des radioaktiven Wassers verlangsamt, es aber nicht daran hindern können, den nahe gelegenen Pripjet und weiter flussabwärts Kiews Trinkwasserreservoir zu erreichen. Eine Eisenbahnbrücke, die in die zum Kraftwerk gehörende Stadt Pripjet führt – ihre 50000 Einwohner wurden evakuiert, einige allerdings zu spät, sodass radioaktives Jod ihre Schilddrüsen schädigte –, ist immer noch zu verstrahlt, um benutzt werden zu können. Doch sechseinhalb Kilometer südlich davon befindet sich über dem Fluss ein wahres Paradies für Vogelfreunde: Man beobachtet dort Kornweihen, Trauerseeschwalben, Bachstelzen, Stein- und Seeadler und die seltenen Schwarzstörche, wie sie an den toten, verstrahlten Kühltürmen vorbeisegeln.
     
    In Pripjet, einer hässlichen Ansammlung von Plattenbauten aus den siebziger Jahren, haben Pappeln, Astern und Fliederbüsche das Pflaster gesprengt und sind in Gebäude eingedrungen. Auf dem ungenutzten Asphalt der Straßen hat sich eine Moosschicht ausgebreitet. Die Dörfer in der Umgebung sind menschenleer, von einigen alten Kleinbauern abgesehen, denen man gestattet hat, hier ihren verkürzten Lebensabend zu verbringen. Der Stuck fällt von den Ziegelbauten, die von ungestutzten Sträuchern überwuchert werden. Verknäulte Weinranken und sogar Birkenschößlinge lösen die Dachschindeln von Holzhütten.
    Gleich jenseits des Flusses beginnt Weißrußland; natürlich macht die Strahlung nicht an Grenzen halt. Während des fünftägigen Reaktorbrands brachte die Sowjetunion ostwärts ziehende Wolken zum Abregnen, damit der kontaminierte Regen Moskau nicht erreichte. Stattdessen ging er 150 Kilometer von Tschernobyl entfernt über der reichsten Kornkammer der UdSSR nieder, dort, wo die Ukraine, Weißrussland und die westrussische Region Nowosybkow aneinandergrenzen. Von der Zehn-Kilometer-Zone direkt um den Reaktor abgesehen, hat kein anderer Ort so viel Strahlung abbekommen – ein Umstand, den die Sowjetregierung verheimlichte, damit keine landesweite Lebensmittelpanik ausbrach. Drei Jahre später, als die Wahrheit ans Licht kam, wurde auch der größte Teil Nowosybkows evakuiert. Zurückblieben die brachliegenden riesigen Getreide- und Kartoffeläcker der Kolchosen.
    Der radioaktive Niederschlag, in erster Linie Cäsium-137 und Strontium-90, Nebenprodukte der Uranspaltung mit einer Halbwertszeit von dreißig Jahren, wird Nowosybkows Böden und Nahrungsketten noch bis mindestens 2135 erheblich verstrahlen. Bis dahin gibt es dort für Mensch und Tier nichts, was gefahrlos zu verzehren wäre. Allerdings ist höchst umstritten, was als »gefahrlos« zu bezeichnen ist. Schätzungen der Zahl von Menschen, die infolge der Tschernobylkatastrophe an Krebs-, Blut oder Atemwegserkrankungen sterben werden, bewegen sich zwischen 4000 und 100000. Die niedrigere Zahl stammt von der IAEA, der

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