Die Welt ohne uns
Internationalen Atomenergie-Organisation, deren Glaubwürdigkeit durch die Doppelrolle beeinträchtigt wird, die sie spielt: einerseits als Wächterin über die friedliche Nutzung der Kernenergie und andererseits als Handelsgesellschaft der Kernenergieindustrie. Die höheren Zahlen werden von offiziellen Gesundheitsexperten, Krebsforschern und Umweltverbänden wie Greenpeace genannt, die alle betonen, dass es noch viel zu früh für ein endgültiges Urteil sei, da sich die Strahlungseffekte im Laufe der Zeit akkumulierten.
Wie immer die wahre Sterblichkeitsrate der Menschen aussehen mag, sie gilt auch für andere Lebensformen, und in einer Welt ohne Menschen werden die Pflanzen und Tiere, die wir zurücklassen, mit einer großen Zahl von Tschernobyls zu tun haben. Noch wissen wir wenig über das Ausmaß der genetischen Schäden, die diese Katastrophe angerichtet hat: In der Regel fallen genetisch beeinträchtigte Mutanten Fressfeinden zum Opfer, bevor Wissenschaftler sie zählen können. Doch erste Studien lassen darauf schließen, dass die Überlebensrate der Tschernobyl-Rauchschwalben signifikant geringer ist als bei Angehörigen der gleichen Art, die, egal wo in Europa, aus ihren Winterquartieren zurückkehren.
»Das Worst-Case-Szenario«, meint der Biologe Tim Mousseau von der University of South Carolina, der oft hierherkommt, »wäre, dass wir hier das Aussterben einer Art erleben: einen genetischen Supergau.«
»Übliche menschliche Aktivitäten sind für Artenvielfalt und Häufigkeit der einheimischen Flora und Fauna viel verheerender als der schlimmste Kernkraftwerksunfall«, lautet das pessimistische Fazit der Radioökologen Robert Baker von der Texas Tech University und Ronald Chesser vom Savannah River Ecology Laboratory der University of Georgia in einer anderen Studie. Baker und Chesser haben Mutationen in den Zellen von Wühlmäusen der verstrahlten Zone Tschernobyls nachgewiesen. Andere Untersuchungen an Tschernobyls Wühlmäusen haben gezeigt, dass ihre Lebenserwartung wie die der Rauchschwalben dort geringer ist als die der gleichen Art anderswo. Allerdings scheinen sie das dadurch auszugleichen, dass sie früher zur sexuellen Reife gelangen und Nachkommen haben, daher hat sich ihre Population nicht verringert.
Möglicherweise beschleunigt die Natur also die Selektion, um die Aussicht zu verbessern, dass einige Mäuse der neuen Generation eine erhöhte Strahlungstoleranz besitzen. Mit anderen Worten, auch sie sind Mutationen – aber vitalere, die besser an eine belastete, veränderte Umwelt angepasst sind.
Begeistert von der unerwarteten Schönheit der verstrahlten Landschaft um Tschernobyl haben die Menschen sogar versucht, die scheinbar unverzagte Natur dadurch zu unterstützen, dass sie ein legendäres Tier wiederansiedelten, das man in dieser Gegend schon seit Jahrhunderten nicht mehr angetroffen hat: das Wisent aus der Puszcza Bialowieska, jenem Restbestand des europäischen Urwalds zwischen Polen und Weißrussland. Bislang grasen die Tiere friedlich in ihrer neuen Umgebung.
Ob ihre Gene die radioaktive Herausforderung überleben, wird man erst nach vielen Generationen wissen. Vielleicht wird es auch noch mehr Herausforderungen geben: Ob ein neuer Sarkophag, der den alten, nutzlosen einschließt, halten wird, steht keineswegs fest. Wenn sein Dach irgendwann aufgesprengt wird, könnte das radioaktive Regenwasser in seinem Inneren und in angrenzenden Abklingbecken verdunsten, sodass die wiederauflebende Tierwelt von Tschernobyl weitere radioaktive Partikel einatmen müsste.
Nach der Explosion schlugen die Geigerzähler in Skandinavien so heftig aus, dass man auf den Verzehr von Rentierfleisch lieber verzichtete. Teeplantagen in der Türkei waren so gleichmäßig verstrahlt, dass man in der Ukraine die Dosimeter mit türkischen Teebeuteln eichte. Wenn in der Zeit nach uns die Abklingbecken der weltweit 441 Kernkraftwerke austrocknen und die Reaktorkerne schmelzen und brennen, werden radioaktive Wolken unseren Planeten verdunkeln.
Einstweilen sind wir noch hier. Nicht nur Tiere, sondern auch Menschen sind in die kontaminierten Zonen von Tschernobyl und Nowosybkow zurückgekehrt. Streng genommen sind sie illegale Haus- und Landbesetzer, doch die Behörden unternehmen keine großen Anstrengungen, die verzweifelten oder bedürftigen Menschen daran zu hindern, sich an unbewohnten Orten niederzulassen, die so frisch riechen und sauber aussehen, solange niemand ein Dosimeter zur Hand
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