Die Welt ohne uns
funktionieren, pressen Feuer und Zerfallsprozesse die Radioaktivität durch Lücken und Abzugsöffnungen. Mit der Verwitterung der Baustoffe bilden sich weitere Risse, aus denen das Gift sickert, bis der geschwächte Beton endgültig nachgibt und die Strahlung mit Macht ins Freie strömt.
Wenn alle Menschen von der Erde verschwinden, arbeiten die 441 – zum Teil mit mehreren Reaktoren bestückten -Kernkraftwerke noch kurze Zeit automatisch weiter, bis sie eins nach dem anderen der Überhitzung zum Opfer fallen. Da die Brennstoffbeschickung in der Regel zeitlich gestaffelt ist, sodass einige Reaktoren arbeiten, während andere abgeschaltet sind, wird vermutlich die Hälfte brennen und die andere Hälfte schmelzen. In beiden Fällen gelangen enorme Mengen von Radioaktivität in die Luft und in nahe gelegene Gewässer. Dort wird sie, wenn es sich um angereichertes Uran handelt, über geologische Zeiträume verweilen.
Wenn die radioaktive Lava mit dem Stahl und Beton in ihrer Umgebung verschmilzt, kühlt sie irgendwann ab – falls das der richtige Ausdruck für einen Klumpen Schlacke ist, der auch danach noch tödlich verstrahlt bleibt, eine Katastrophe für alles Leben, das noch auf der Erdoberfläche bestünde. Die eben noch so perfekt konstruierte und arbeitende Anlage wäre zu einem tödlichen, stumpfen Metallklotz erstarrt: auf Jahrtausende hinaus ein Verderben bringendes Vermächtnis für jedes Wesen, das ihm zu nahekäme.
Strahlendes Leben
Binnen eines Jahres begannen sie sich wieder zu nähern. Tschernobyls Vögel verschwanden in dem Feuersturm, den Reaktor Nummer vier im April mit seiner Explosion auslöste, als sie noch kaum mit dem Nestbau begonnen hatten. Bis zu dieser Explosion war Tschernobyl mit seinen vier 1000-Megawatt-Reaktorblöcken im Begriff, der größte Nuklearkomplex der Welt zu werden. Eines Abends kam es infolge einer Verkettung von Bedienungs- und Konstruktionsfehlern zu einer kritischen Masse an menschlichem Versagen. Die Explosion war zwar nicht nuklear – es wurde nur ein Gebäude beschädigt –, verteilte aber in einer ungeheuren radioaktiven Dampfwolke aus verdunsteten Kühlmitteln das Innenleben eines Kernreaktors über die umgebende Landschaft und den Himmel. Für die russischen und ukrainischen Wissenschaftler, die hektisch Proben nahmen, um die Wege der radioaktiven Verschmutzung in der Erde und in den Gewässern zu verfolgen, war das Verstummen der Vogelwelt Unheil verkündend.
Doch im nächsten Frühjahr waren die Vögel wieder da und blieben. Dass Rauchschwalben ungeschützt um das Skelett des verstrahlten Reaktors flitzen, wirkt beklemmend auf den Besucher, der mehrere Schichten Wolle, einen kapuzenbewehrten Leinenoverall und eine Gesichtsmaske trägt, um Alphateilchen abzuwehren und Haar und Lunge vor Plutoniumstaub zu schützen. Die Schwalben erwecken den Anschein von Normalität, als wäre die Apokalypse doch nicht gar so schlimm gewesen. Das Schlimmste ist eingetreten und das Leben geht weiter.
Es mag weitergehen, aber die Voraussetzungen haben sich verändert. Viele Jungschwalben haben ein weiß geflecktes Federkleid. Sie fressen Insekten, werden flügge und ziehen in den Süden wie alle anderen. Doch im folgenden Frühjahr kehren sie nicht zurück. Sind sie genetisch zu stark geschädigt, um die Reise nach Südafrika und zurück zu absolvieren? Macht ihr auffälliges Gefieder sie für potenzielle Paarungspartner unattraktiv oder für Fressfeinde zu einer leichten Beute?
In der Zeit nach der Explosion und dem Feuer in Tschernobyl untertunnelten Bergleute und U-Bahn-Arbeiter die Fundamente von Block Nummer vier und vergossen Beton zu einer zweiten Bodenplatte, um zu verhindern, dass der Kern das Grundwasser erreichte. Vermutlich war das überflüssig, weil die Kernschmelze vorbei war und nur eine 200 Tonnen schwere Pfütze aus erstarrtem Schlamm am Boden des Blocks geblieben war. Während der zweiwöchigen Grabungsarbeiten drückte man den Arbeitern Wodkaflaschen in die Hand. Der Wodka schütze sie, wie man ihnen fälschlicherweise versprach, gegen die Strahlenkrankheit.
Gleichzeitig begann man mit dem Bau eines Sicherheitsbehälters, der allen sowjetischen Reaktoren vom Tschernobyl-Typ (RBMK-Reaktoren) fehlte, weil sie so schneller mit neuem Brennstoff beschickt werden konnten. Zu diesem Zeitpunkt waren schon Hunderte Tonnen strahlenden Brennstoffs auf die Dächer der benachbarten Reaktorblöcke geschleudert worden, hinzu kam die frei gewordene
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