Die Welt ohne uns
Entgegen einem weitverbreiteten Mythos wachsen Haar und Nägel nach dem Tod nicht mehr weiter. Wenn unser Gewebe austrocknet, zieht es sich zusammen und die dadurch zutage tretenden Haarwurzeln erwecken den Eindruck, exhumierte Leichname könnten einen Haarschnitt gebrauchen.
Würden wir alle plötzlich das Zeitliche segnen, hätten die üblichen Aasfresser unsere Knochen in wenigen Monaten abgenagt, abgesehen von den Menschen, deren sterbliche Hülle in einer Gletscherspalte gelandet oder so tief in einem Moor versunken ist, dass Sauerstoff und der biologische Entsorgungstrupp ihnen nichts anhaben können. Doch was ist mit denjenigen, die vor uns gegangen sind – in die nächste Welt, wie immer sie aussehen mag, nachdem wir sie zur letzten Ruhe gebettet haben? Wie lange sind unsere sterblichen Überreste tatsächlich als solche erkennbar? Welche Dauer ist dem Erfolg unserer aufwendigen und kostspieligen Versuche beschieden, die Toten zu konservieren und unzugänglich zu verwahren?
In großen Teilen der modernen Welt beginnen wir mit dem Einbalsamieren, einer Geste, die das Unvermeidliche nur vorübergehend aufschiebt, so Mike Mathews, der seinen Studenten die chemischen, mikrobiologischen und kulturgeschichtlichen Aspekte dieses Prozesses im Rahmen der Leichenkunde an der University of Minnesota vermittelt.
»Die Einbalsamierung ist wirklich nur für die Bestattungen. Das Gewebswasser verdickt sich ein bisschen, doch dann setzt die Verwesung wieder ein.« Da es unmöglich ist, einen Leichnam vollständig zu desinfizieren, entfernten die ägyptischen Mumifizierer alle Organe, weil dort die Zersetzung beginnt.
Im Darmtrakt verbliebenen Bakterien kommen schon bald natürliche Enzyme zur Hilfe, die aktiv werden, sobald der pH-Wert des Leichnams sich verändert. »Eines von ihnen ist in vielen Fleischzartmachern enthalten. Sie zerlegen unsere Proteine, sodass sie leichter zu verdauen sind. Sobald es aus ist mit uns, machen sie sich an die Arbeit, ob Einbalsamierung oder nicht.«
Die Einbalsamierung war nicht üblich bis zum amerikanischen Bürgerkrieg, als man sich ihrer zur Überführung gefallener Soldaten bediente. Anstelle des Blutes, das sich rasch zersetzt, nahm man etwas, was ein bisschen haltbarer war. Häufig handelte es sich um Whisky. »Eine Flasche Scotch ist prima«, meint Mathews. »Mich hat sie schon mehrfach einbalsamiert.«
Arsen erwies sich als noch geeigneter und war billiger. Bis seine Nutzung zu diesem Zweck in den 1890er Jahren verboten wurde, wurde es allgemein verwendet; daher sind hohe Arsenkonzentrationen gelegentlich ein Problem für Archäologen, die alte amerikanische Gräber öffnen. In der Regel stellen sie fest, dass die Toten trotzdem verwest sind, nur das Arsen ist geblieben.
Danach kam das Formaldehyd, das noch heute verwendet wird. Es wird aus den gleichen Phenolen gewonnen, die dem Bakelit, dem ersten Kunststoff, zugrunde liegen. Seit einiger Zeit protestiert eine grüne Bestattungsbewegung gegen die Verwendung von Formaldehyd, weil es zu Ameisensäure oxidiert, dem Gift der Ameisen und Bienen, und so als ein weiteres Umweltgift ins Grundwasser gelangt: Die Umwelt wird noch aus dem Grab heraus verschmutzt. Diese Fürsprecher einer Ökobestattung beanstanden auch, dass wir nach der frommen Floskel, »Asche zu Asche, Staub zu Staub«, unsere Toten zwar begraben, uns zuvor aber paradoxerweise größte Mühe geben, die Erde von ihnen fernzuhalten.
Dieses Fernhalten beginnt schon mit dem Sarg. In Deutschland sind aufgrund von Umweltschutzbestimmungen nur Holzsärge erlaubt, doch in den USA hat man Kiefernkisten durch moderne Sarkophage aus Bronze, reinem Kupfer und rostfreiem Stahl ersetzt oder verwendet Särge aus den geschätzten 150000 Kubikmetern tropischen und einheimischen Harthölzern, die man jährlich nur fällt, um sie unter die Erde zu bringen. Allerdings kommt die Holzkiste, in die man US-Amerikaner zur ewigen Ruhe bettet, noch in einen anderen Kasten, eine Ummantelung, die gewöhnlich aus einfachem grauen Beton besteht und die Aufgabe hat, das Gewicht der Erde zu tragen, damit die Gräber nicht, wie auf älteren Friedhöfen, einsinken und Grabsteine umfallen, wenn die Särge darunter verrotten und zusammenbrechen. Da die Deckel nicht wasserdicht sind, befinden sich Löcher im Boden des Betonsargs, damit alles, was hineinsickert, auch wieder abfließen kann.
Die Fürsprecher der Ökobestattung missbilligen die Betonhüllen und empfehlen Särge aus Stoffen, die
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