Die Weltenwanderer
Fahrzeug vor ihnen scherte auf die Überholspur aus, überholte seltsamerweise aber nicht. Auf gleicher Höhe fuhren beide weiter.
Er hätte das verstehen können, wenn sie ihr Tempolimit ausgereizt hatten, und linste auf den Tacho. Die Nadel stand auf hundertzwanzig.
Seine Schwester sah in den Rückspiegel und ihre Hände verkrampften sich wieder. »Scheiße!«
Erik sah sich um. Auch hinter ihnen lieferten sich zwei Wagen ein Elefantenrennen, holten jedoch gemeinsam auf. Er spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. »Weißt du, wer das ist?«
»Unser Feind!«
Die Antwort ließ ihn schlucken. Er sah Bremsleuchten an den Fahrzeugen vor ihnen und drehte sich hektisch um. Ein Auto fuhr jetzt auf der Abbiegespur der ersten Ausfahrt.
»Die wollen uns ausbremsen.« Seine Stimme überschlug sich fast.
»Halt dich fest!« Leona riss das Steuer nach rechts.
Ungebremst raste der Wagen auf die Ausfahrt zu. Als er die Abbiegespur überquerte, sah Erik unwillkürlich aus dem Seitenfenster. Die Scheinwerfer des Verfolgerfahrzeugs waren so nah und hell, dass er aufkeuchte und für Sekunden gar nichts mehr sehen konnte.
Der Motor jaulte, Reifen quietschten, das Auto schien seitwärts zu driften.
Er klammerte sich an die Armlehnen und drückte seine Füße auf den Wagenboden, als wollte er bremsen.
Sie bremste wirklich, wenn auch mit Stotterbremse.
»Komm schon! Warst immer ein guter Wagen. Lass mich jetzt nicht im Stich!«
Erik presste sich in den Sitz und krächzte fortlaufend: »Bitte nicht, bitte nicht ...!«
Der Mercedes neigte sich, fuhr nur noch auf zwei Rädern.
Eriks Bitten blieben ihm im Halse stecken.
»Runter mit dir!«, brüllte sie.
Das Auto kippte wieder zurück. Auf vier Rädern ging es weiter.
»Das war knapp«, stöhnte er, als sie die Landstraße erreichten. Seine Erleichterung war nicht von langer Dauer, denn Leona schaltete die Scheinwerfer aus und trat aufs Gaspedal. In völliger Dunkelheit schoss der Wagen durch die Allee.
»Bist du wahnsinnig?«, keuchte er. »Du kannst doch nicht ohne Licht fahren. Du ...«
Scheinwerfer von hinten spiegelten sich in der Frontscheibe.
»Halt die Klappe!«, unterbrach sie ihn. Mit quietschenden Reifen bog sie in ein Gewerbegebiet ab.
Sie passierten unglaublich schnell Baumärkte, Modeketten, Großgärtnereien sowie Elektronikläden.
Leona bog immer wieder rechts oder links ab. Sie raste über den Parkplatz einer Großhandelskette und jagte an einem Möbelhaus vorbei. Sie bretterte durch eine Passage, die nur für Fußgänger ausgewiesen war, und verlor dabei einen Außenspiegel.
Erik sah sich nach allen Seiten um. Scheinwerfer konnte er irgendwann keine mehr sehen. Die Landstraße lag wieder vor ihnen.
»Haben wir sie abgehängt?« Ihm fiel selbst auf, wie dünn seine Stimme klang.
»Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme klang nicht viel anders.
Mit völlig überhöhter Geschwindigkeit ging es weiter. In Kurven nutzte sie die gesamte Breite der Straße. Erik kam sich vor wie in der Achterbahn und mehr als einmal lag ihm ein Schrei auf den Lippen. Er biss so fest die Zähne zusammen, dass sein Kiefer schmerzte.
Bunte Lichterketten zur Rechten und ein Schild wiesen auf einen Gebrauchtwagenhändler hin.
Leona trat so stark auf die Bremse, dass der Wagen schlingerte, lenkte ihn trotzdem noch auf den Platz. Dort parkte sie hinter zwei »Top-Angeboten der Woche« und stellte den Motor aus. Die Motorhaube glitzerte plötzlich, als sei sie vereist. Eis überzog auch die Scheiben. Selbst im Wageninneren herrschten schlagartig Minustemperaturen.
»Was ...?«, setzte Erik an, wurde aber sofort von ihr unterbrochen.
»Kopf runter! Sag kein Wort! Sei absolut still!« Ihre Stimme war so leise wie bestimmt.
Eriks Gedanken überschlugen sich. Fragen über Fragen türmten sich auf. Angst und Verständnislosigkeit rangen miteinander, während sein Kopf auf den Knien lag. Dass er so nicht einmal sehen konnte, was sich draußen abspielte, dafür aber immer wieder Motorengeräusche hörte, führte dazu, dass die Angst die Oberhand gewann.
Nach einer Zeit, die ihm unendlich lang erschien, vernahm er Leonas Stimme.
»Sie haben uns nicht entdeckt. Kannst hochkommen.«
Erleichtert atmete er durch, stellte fest, dass sie halbwegs freie Sicht hatten, und dass sowohl Beine als auch Hände zitterten.
Er sah sie an. »Das hast du toll gemacht. Ehrlich! Mir schlottern trotzdem die Knie. Ich wusste bis eben nämlich nicht, dass wir Feinde haben. Erzählst du mir nun
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