Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Betrachter. Der Hindufrau aber, die auf der Terrasse am Ganges ihr Baby stillt,
beweist der bunte Reichtum: Nichts geht verloren! Sie hat vielleicht keine Worte für ihre innere Gewissheit. So wenig wie
vor ihren Zehen der eilige Tausendfüßler um die Zahl seiner Beine weiß. Die junge Hindumutter vertraut ihrem Gefühl, und das
sagt ihr: Sie ist in der großen Vielheit geborgen.
Dennoch, der rezitierende Priester ist unentbehrlich bei den großen Dingen des Lebens. Die junge Frau braucht ihn für die
Zeremonie der Namensgebung, wenn sie 40 Tage nach der Geburt ihres Kindes den Tempel besucht. Nur der Priester verkehrt mit
den höchsten Himmelsbewohnern. Allein er weiß, wie man sich die Gottheiten gefügig macht, durch Rituale, Gesänge, Opfer und
Beschwörungen.
Der Protest gegen die Priestermacht
In der zweiten Hälfte des Jahrtausends vor unserer Zeitrechung, als der Buddhismus entstand, wandelten die Priester, die zur
obersten Kaste der Brahmanen gehörten und dadurch unbestreitbar an der Spitze der indischen Gesellschaft standen, wie Götter
unter den Menschen. Die übrigen Kasten besaßen kein religiöses Mitspracherecht. Der Adel war auf die brahmanischen Spezialisten
angewiesen, Fürsten und Regenten, nicht zuletzt auch die Militärs. Wenn große Entscheidungen anstanden, oder wenn man sich
der himmlischen Gunst versichern musste, bevor man in die Schlacht zog – nichts ging ohne die Priester. Sie allein wussten,
wie die unsichtbaren Mächte mit heiligen Formeln und Begehungen zufrieden zu stellen waren. Die kleinen Leute bekamen deren
Macht nur selten zu spüren, die oberen Zehntausend jedoch waren Gefangene des Priesterstandes.
Dagegen formierte sich um 500 vor unserer Zeit eine lautlose Protestbewegung. Junge Männer, vorwiegend Nicht-Brahmanen, entzogen
sich der Priestermacht |47| und gingen in die Einsamkeit, um auf eigene Faust das religiöse Heil zu finden: das Eine in dem Vielen, die Einzelseele in
der Allseele. Man traf sie in den Wäldern, als Einzelgänger durchwanderten sie Dörfer und Städte. Sie brauchten nicht viel
zum Leben, eigentlich fast gar nichts, und ernährten sich von milden Gaben. Sie hatten der heillosen Welt den Rücken gekehrt.
In der besitz- und kastenlosen Asketenbewegung entdeckten die Aussteiger ihre eigene religiöse Kompetenz. Eine Religion der
Innerlichkeit, die ohne Priester, Opfer und Altäre auskam.
Viele junge Männer zog es damals hinaus in die Hauslosigkeit. Siddharta Gautama aus dem Geschlecht der Sakyas, der spätere
Buddha, war zunächst nur einer von ihnen. Seine Lehre teilte mit den hinduistischen Gläubigen ein breites Vokabular: Nirwana
(das Auslöschen, Verwehen), Yoga (die Vereinigung), Karma (das Vergeltungsschicksal), Tathagata (ein »so Gekommener«), Buddha
(ein »Erleuchteter«), Samsara (der Geburtenkreislauf), Dharma (die Lehre und das kosmische Gesetz). Das waren jedem Hindu
vertraute Begriffe, schon bevor Buddha kam. Wegen der vielen Überschneidungen zwischen Buddhas Lehre und anderen asketischen
Gruppierungen sahen seine Zeitgenossen in ihm einen Yogi wie viele andere, einen weiteren wundertätigen Asketen. Doch der
junge Adelige wuchs über seine Umgebung hinaus. Er wurde zum Stifter einer neuen Religion.
Buddha, der indische Samurai
Wenn wir uns Buddha wie in diesem Buch vom westlichen Kulturkreis aus nähern, interessieren uns zunächst die Fakten. Und die
Fakten, die wir gegenwärtig kennen, sind verlässlich. Wissenschaftler aus vielen Ländern haben sie über Generationen hinweg
zusammengetragen. Moderne Historiker setzen sein Leben auf die Zeit zwischen 450 und 370 vor unserer Zeit, traditionelle Buddhisten
um ein Jahrhundert früher. Er war demnach ein Zeitgenosse von Sokrates, Platon und Aristoteles. Im Gegensatz zu diesem griechischen
Dreigestirn des Westens prägte Buddha auf der anderen Seite des Globus als Einzelperson die Geschichte Asiens für Jahrtausende.
Dabei kam er wie aus dem Nichts.
Sein Vater war ein Adeliger aus dem Geschlecht der Sakyas, darum trägt er in der Überlieferung oft den Namen Sakyamuni, der
Weise aus dem Geschlecht der Sakyas. Die Mutter Maya soll bei der Geburt gestorben sein. Doch womöglich erzählt das nur die
Legende. Wie sollte die Mutter des Welterleuchters |48| nach seiner Geburt als normale Frau weitergelebt haben? Solch eine Vorstellung ist für den Gläubigen undenkbar. Zu Königswürden
stieg auch der Vater niemals auf. Bei
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