Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
wieder geboren werden, hohe und niedere, schöne und hässliche, glückliche und unglückliche. Das war das zweite
Wissen, das ich in der mittleren Nachtwache erreichte. ...
Dann richtete ich meine Wahrnehmung auf die Erkenntnis der Vernichtung jener unheilvollen Bedingungen, die zum Dasein führen,
und erkannte: Dies ist das Leiden! Und dies ist die Entstehung des Leidens! Und dies ist die Beseitigung des Leidens! Und
dies ist der Weg zur Beseitigung des Leidens! ... Da wurde mein Denken frei von jenen unheilvollen Bedingungen, die Begehren,
Werden und Nichtwissen nach sich ziehen. Und es stellte sich die Erkenntnis ein: Ich bin befreit. Vernichtet ist die Wiedergeburt,
gelebt ist der heilige Wandel. Getan ist, was zu tun war, die Geburt ist vernichtet! So erkannte ich. Das war das Wissen,
das ich in der letzten Nachtwache erreichte.«
Dies ist eine von mehreren Versionen, die vom Nirwana-Durchbruch Buddhas berichten. Ich halte die Erzählung im Kern für glaubwürdig,
obwohl einige Spuren verraten, wie oft sie in der Überlieferung bearbeitet worden ist. Dafür sprechen die starke Schematisierung
ebenso wie die mirakulösen Zugaben. So hat Buddha bestimmt nicht gesprochen. Dennoch haben die Sutras seine Botschaft im Wesentlichen
unverfälscht durch die Jahrtausende transportiert, sodass wir auch heute – trotz aller großen und kleinen Veränderungen, trotz
aller Schauwunder und Überhöhungen in den Legenden – ein lebendiges Bild vom Leben und von der Lehre Buddhas vor Augen haben.
Dem griechischen Romanautor Nikos Kazantzakis, der durch sein Buch
Alexis Sorbas
weltberühmt wurde, begegnete Buddha noch im Jahr 1956 so authentisch wie den Menschen des ersten Jahrtausends vor unserer
Zeitrechnung: »Alle sind wir eins, und dieses Eine leidet, und wir müssen es erlösen. Wenn auch nur ein Tropfen Wasser zitternd
leidet, so leide ich mit. Es gehen meinem Geist die ›vier großen heiligen Wahrheiten‹ auf: Diese Welt ist ein Netz, in dem
wir gefangen sind, der Tod erlöst uns nicht, wir werden wieder geboren. Lasst uns den Durst überwinden, die Begierde ausreißen,
unser Inneres leeren! Sagt nicht: ›Ich will sterben; ich will nicht sterben.‹ Sagt: ›Ich will nichts.‹ Erhebt euren Geist
über die Begierde und die Hoffnung – und dann, noch lebendig, könnt ihr in die Seligkeit der Nichtexistenz eintreten. Mit
eurem Arm werdet ihr das Rad der Geburten anhalten. – Niemals war Buddhas Gestalt in so viel Licht getaucht vor mir erschienen
wie jetzt.« So oder so ähnlich sprach Buddha zu seiner Zeit am Fuß des Himalaya. Die endlosen, langatmigen Sutras der späteren
Mönchstradition dürfen uns nicht irritieren. Sie sind nur ein schwacher Abglanz seiner Botschaft.
|53| Die buddhistische Kunst und die volkstümlichen Legenden haben immer wieder jenen Augenblick dargestellt, in dem Siddharta
unter dem Laub eines Feigenbaums sein Schicksal beschwor.
»Abgeschieden setzte ich mich nieder und begann mein Denken zu bewegen: Wie elend da zu sein und ständig neu den Körper an-
und abzulegen! Ein Ausweg ist und lässt sich finden, undenkbar, dass es nicht so wäre. Ihn will ich suchen, um herauszufinden,
wie ich vom Dasein mich entleere. Ein Mensch, den Ruß und Kot beschmutzen, und sieht vor seinen Füßen Wasser rinnen, wird
doch die Kraft des Wassers nutzen, er wäre sonst nicht recht bei Sinnen. So, wenn Nirwanas Wasser existieren, um wegzutragen
Durst und Leiden, dann will ich dort die Daseinslast verlieren und fürs Nirwana mich entscheiden!«
So lassen die Verse der Jataka-Dichtung den jungen Siddharta sprechen. In der Provinz Bihar besuchen Tag für Tag die Pilger
den heiligen Bodhi-Baum, unter dem er damals seinen Entschluss fasste und den heute eine Tempelanlage umgibt. Sie verehren
dort den indischen Samurai, der den großen Durchbruch erzwang.
Noch einmal Stirb und Werde, in Ost und West
Buddhas Lehre ist die radikalste Konsequenz aus der Einsamkeit des Menschen, der kein »entsprechendes Gegenüber« findet.
Ich bin nicht dieser Baum, keine Pflanze, kein Tier, ich bin keine Machina Sapiens, ich bin anders als die anderen, es gibt
keinen Platz für mich in dieser Welt. Sind wir ein Irrläufer der Evolution, die uns zufällig mit einem Gehirn ausstattete,
das uns zwingt, die letzten Fragen zu stellen? Nach dem Woher und Wohin? Fragen, die in der Entwicklungsgeschichte nicht vorgesehen
waren und die darum kein Baum, kein Tier, kein Stern
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