Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Bewusstseins,
der Psychohistorie: Die Botschaft Buddhas bliebe auch dann revolutionär, wenn es ihn nie gegeben hätte! Und wie steht es mit
Moses oder Jesus? Auch bei ihnen gehen Fiktion und Fakten ineinander über, das aber werde ich mit den Leserinnen und Lesern
an Ort und Stelle diskutieren. Das Beispiel der hinduistischen Religionen zeigt jedenfalls: Harte Fakten sind für die Frömmigkeit
sekundär. Es sei denn, wir wollten die Milchstraßen indischer Götterwelten als fromme Hirngespinste diffamieren. Ich tue das
nicht. Ein betender Hindupriester ist ebenso authentisch wie der Papst.
Ich sagte es schon: Lehrsätze in unserem Sinn kennt der Hinduismus nicht. Ganz voraussetzungslos stellt sich dessen bunte
Vielfalt trotzdem nicht dar. Denn der indische Glaube geht von zwei Grundsätzen aus: Erstens, es gibt viele Götter, aber keinen
einzigen Gott, der die Welt aus dem Nichts geschaffen hätte. Zweitens, die Geschichte, im Großen wie im Kleinen, findet niemals
ein Ziel und kommt an kein Ende. Diese Axiome stehen für die indische Weltsicht |44| sozusagen mit dogmatischer Gewissheit fest. Deshalb ist auch der Hinduismus nicht unbegrenzt durchlässig für andere Religionsauffassungen.
Dem Islam, der im Mittelalter weite Teile von Indien eroberte, ist es beispielsweise nie gelungen, den Hinduismus zu durchdringen.
Der muslimische Glaube an Allah als den Weltschöpfer ließ sich mit dem religiösen Gefühl der Hindus nicht vereinbaren. Dem
unausgesetzten Bemühen der christlichen Missionare, sie zum Christengott zu bekehren, blieb aus demselben Grund ein durchschlagender
Erfolg versagt.
Helmuth von Glasenapp, der Indienkenner, beschreibt das Nebeneinander aller indischen Glaubensrichtungen: »In einem herrlichen,
künstlerisch vollendeten Tempel des Südens wird Shiva mit dem ganzen Prunk eines ehrwürdigen Rituals gefeiert; ein Asket steht
abseits und murmelt, indem er einen Rosenkranz aus Rudrakshabeeren durch die Finger gleiten lässt, die heilige Formel: ‘Shivo
‘ham, Shivo ‘ham’ (‘Ich bin Shiva’) und gibt dadurch seinem Glauben Ausdruck, dass der Herr der Welt, den die Priester vertreten,
in Wahrheit der Urgrund ist, in dem jedes Einzelwesen ruht. Unmittelbar neben dem Heiligtum steht ein kleiner Tempel mit dem
rohen, grell bemalten Idol einer Göttin, vor das abgehärmte Frauen Puppen hinstellen, um Kindersegen zu erflehen ... Seite
an Seite mit kleinen Versammlungen, in denen ein Sadhu die Weisheit der Upanishaden oder der Gita vorträgt oder die alten
Legenden von Krishna oder Rama erzählt, befindet sich ein Brunnen, in welchem eine heilige Kobra durch Opfergaben verehrt
wird oder die rohe Steinskulptur des elefantenköpfigen, hängebäuchigen Ganesha. Am Kalighat bei Kalkutta werden der Kali blutige
Ziegenopfer dargebracht, unweit derselben Stadt ist das Kloster des Ramakrishna, des letzten großen Hinduheiligen (gest. 1886),
der in stiller Meditation sich in das über alle Vielheit erhobene all-eine Brahma versenkte und dessen Schüler Vivekananda
der westlichen Welt einen vergeistigten Hinduismus als die allen Erfordernissen moderner Wissenschaft gerecht werdende Religion
darzustellen bemüht war.«
Ein Tourist, der, zurück aus Indien, seine Videos bearbeitet, wird versuchen die ebenso wundersame wie kunterbunte Vielgestaltigkeit
innerlich zu ordnen. Die Leichenverbrennung am heiligen Fluss, dem Ganges. Nur einen Steinwurf davon entfernt sammeln Angehörige
Gebeine und Asche eines anderen Toten und streuen sie in die Gewässer. Dazwischen wogen Tausende festlich gekleideter Menschen,
steigen die Steinterrassen herab und waschen im erlösenden Wasser ihre Sünden von sich. Eine Wolke von brausendem, summendem
Lärm liegt in der Luft. In der Erinnerung weht eine Duftfahne von Sandelholz herüber, |46| während der Priester vor dem aufflammenden Holzstoß die Verse rezitiert: »Erkenne diesen Atman, ungeboren, unsterblich, niemals
endend, niemals beginnend. Ohne Tod, ohne Geburt. Unzerstörbar in Ewigkeit, wie kann der Atman sterben beim Tod des Leibes?«
Am Ende steht sein Friedensgruß: »Friede den oberen Welten, Friede dem Himmel, Friede der Erde!«
Im heiligen Wasser des Ganges waschen festlich gekleidete Menschen ihre Sünden von sich.
|46| An Ort und Stelle, in Indien, passte alles zusammen, jetzt aber, zu Hause, wirken die Bilder nur noch exotisch, aus dem Zusammenhang
gerissen. Die Vielfalt verwirrt den westlichen
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