Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
durch? Mit vielen von ihnen haben die einfachen Leute im Dorf nur bei besonderen Anlässen zu tun. Wenn einer zum Beispiel
verreisen muss, wenn die Totenrituale zu begehen sind, oder falls der Monsunregen ausbleibt. Dann wendet man sich an die Großen
unter den Himmelsbewohnern: an |42| Shiva, der die schöpferischen wie die zerstörerischen Aspekte des Universums verkörpert, an Vishnu, den Erhalter der Welt
und Bewahrer der inneren Ordnung, und an Brahma, den Baumeister der Welt, der die Seelen im Kreislauf der Wiedergeburt mit
den erforderlichen Leibern versieht. Und dann ist der Priester gefragt. Denn keiner von den Dorfbewohnern wüsste, mit den
großen Tempelgöttern umzugehen, oder welche Opfer zu bringen und welche Rituale zu vollziehen sind.
Shiva (links), Krishna, Ganesha, Matsya Inkarnation Vishnus, Shiva (Mahadeva), Brahma: für jede Lebenssituation ist ein Gott
oder eine Göttin zuständig.
|42| Der Hinduismus, ein Universum von Religionen
»Hinduismus,
indische Volksreligion
«, so definiert der Duden das Wort. Eine etwas irreführende Auskunft. In Wirklichkeit ist Hinduismus ein Sammelname für die
ganze Mannigfaltigkeit der hinduistischen Volksreligionen und dient nicht als übergeordnete Konfessionsbezeichnung. Doch trotz
aller Vielfalt sind die an Indien gebundenen Religionen alle untereinander verwandt. Sie stützen sich auf die Schriften der
namenlosen alten Seher, auf die Autorität der Veden, Upanishaden und der Gitas.
Veda (Sanskrit »Wissen«) ist die älteste religiöse Literatursammlung Indiens und stammt aus dem 1. Jahrtausend vor unserer
Zeit. Nach ihrer Verwendung im Gottesdienst wird sie in vier Veden eingeteilt, die als Offenbarung gelten: Rigveda (Hymnen
an die Götter), Samaveda (Lieder), Yajurveda (Opfersprüche) und Atharvaveda (Zauberlieder). In den Upanishaden (im Sanskrit
das »Sitzen des Schülers neben dem Lehrer«) wurden die wichtigsten Gedanken der indischen Philosophie und Religion zum ersten
Mal ausführlich formuliert. Die älteren Upanishaden entstanden zwischen 800 und 600, die jüngeren Upanishaden, die sich von
den älteren deutlich unterscheiden, wurden bis in die Zeit um 1500 nach unserer Zeit geschrieben. Die Bhagavadgita (Sanskrit
»Gesang des Erhabenen«) ist ein heiliger Text im Hinduismus und eines der am meisten gelesenen Bücher Indiens, ein religionsphilosophisches
Gedicht aus einem 18 Gesänge umfassenden Volksepos, in dem der Gott Vishnu in menschlicher Gestalt dem Helden Ardshuna Mut
zuspricht und ihm den Weg zur Erlösung weist: durch selbstloses Tun, Selbstverleugnung und Hingabe. Erwähnt wird die Bhagavadgita
bereits im 4. Jahrhundert vor unserer Zeit.
All diese Schriften sind verschieden – und gleichen sich doch. Jede bevorzugt einen besonderen Heilsweg, um in der heillosen
Welt das Heil zu finden, aber keine einzelne hinduistische Religion erhebt einen absoluten Wahrheitsanspruch. |43| Das Göttliche ist wie Quecksilber, das zerrinnt, sobald man versucht, es zwischen die Fingerspitzen zu nehmen – ein Sinnbild
für den universalen Zustand der Welt.
Gott und Welt, in den westlichen Religionen so streng geschieden, sind in hinduistischer Sicht ein und dasselbe, zwei Seiten
derselben Medaille. Das Brahman, die Weltseele, und Atman, die Einzelseele, durchdringen einander in unaufhörlichen selbstschöpferischen
Prozessen, für die es keinen Anfang und kein Ende gibt. Darum geht auch nichts in der Welt verloren. Der Weltprozess gleicht
einer großen Recyclinganlage: Die Spuren, die wir hinterlassen, begegnen uns wieder. Vielleicht noch in diesem Leben, vielleicht
erst in einem der folgenden unserer myriadenfachen Lebensläufe. Die Welt ist eine Falle. Wird die Seele der endlosen Irrfahrt
durchs Samsara, den Reigen der Wiedergeburten, endlich überdrüssig, versucht sie, im Brahman Ruhe zu finden und in die Allseele
einzugehen.
Dem Hinduismus sind Lehrsätze mit Absolutheitsanspruch immer fremd geblieben. In diesem Zusammenhang ist mir eine Beobachtung
wichtig: Der hinduistische Glaube kommt ohne historische Leitfiguren aus. Das ist anders im Buddhismus, und das ist noch einmal
ganz anders im Judentum und dessen Nachfolgereligionen, dem Christentum und dem Islam. Die Berufung auf Buddha, Abraham und
Moses, auf Jesus und Muhammad ist in diesen Religionen unentbehrlich.
Religion ist nicht auf historisch stimmige Fakten angewiesen. Ihre Bezugsgestalten sind Bestandteil des kollektiven
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