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Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann

Titel: Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnulf: Zitelmann
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durch? Mit vielen von ihnen haben die einfachen Leute im Dorf nur bei besonderen Anlässen zu tun. Wenn einer zum Beispiel
     verreisen muss, wenn die Totenrituale zu begehen sind, oder falls der Monsunregen ausbleibt. Dann wendet man sich an die Großen
     unter den Himmelsbewohnern: an |42| Shiva, der die schöpferischen wie die zerstörerischen Aspekte des Universums verkörpert, an Vishnu, den Erhalter der Welt
     und Bewahrer der inneren Ordnung, und an Brahma, den Baumeister der Welt, der die Seelen im Kreislauf der Wiedergeburt mit
     den erforderlichen Leibern versieht. Und dann ist der Priester gefragt. Denn keiner von den Dorfbewohnern wüsste, mit den
     großen Tempelgöttern umzugehen, oder welche Opfer zu bringen und welche Rituale zu vollziehen sind.
    Shiva (links), Krishna, Ganesha, Matsya Inkarnation Vishnus, Shiva (Mahadeva), Brahma: für jede Lebenssituation ist ein Gott
     oder eine Göttin zuständig.
    |42| Der Hinduismus, ein Universum von Religionen
    »Hinduismus,
indische Volksreligion
«, so definiert der Duden das Wort. Eine etwas irreführende Auskunft. In Wirklichkeit ist Hinduismus ein Sammelname für die
     ganze Mannigfaltigkeit der hinduistischen Volksreligionen und dient nicht als übergeordnete Konfessionsbezeichnung. Doch trotz
     aller Vielfalt sind die an Indien gebundenen Religionen alle untereinander verwandt. Sie stützen sich auf die Schriften der
     namenlosen alten Seher, auf die Autorität der Veden, Upanishaden und der Gitas.
    Veda (Sanskrit »Wissen«) ist die älteste religiöse Literatursammlung Indiens und stammt aus dem 1. Jahrtausend vor unserer
     Zeit. Nach ihrer Verwendung im Gottesdienst wird sie in vier Veden eingeteilt, die als Offenbarung gelten: Rigveda (Hymnen
     an die Götter), Samaveda (Lieder), Yajurveda (Opfersprüche) und Atharvaveda (Zauberlieder). In den Upanishaden (im Sanskrit
     das »Sitzen des Schülers neben dem Lehrer«) wurden die wichtigsten Gedanken der indischen Philosophie und Religion zum ersten
     Mal ausführlich formuliert. Die älteren Upanishaden entstanden zwischen 800 und 600, die jüngeren Upanishaden, die sich von
     den älteren deutlich unterscheiden, wurden bis in die Zeit um 1500 nach unserer Zeit geschrieben. Die Bhagavadgita (Sanskrit
     »Gesang des Erhabenen«) ist ein heiliger Text im Hinduismus und eines der am meisten gelesenen Bücher Indiens, ein religionsphilosophisches
     Gedicht aus einem 18 Gesänge umfassenden Volksepos, in dem der Gott Vishnu in menschlicher Gestalt dem Helden Ardshuna Mut
     zuspricht und ihm den Weg zur Erlösung weist: durch selbstloses Tun, Selbstverleugnung und Hingabe. Erwähnt wird die Bhagavadgita
     bereits im 4. Jahrhundert vor unserer Zeit.
    All diese Schriften sind verschieden – und gleichen sich doch. Jede bevorzugt einen besonderen Heilsweg, um in der heillosen
     Welt das Heil zu finden, aber keine einzelne hinduistische Religion erhebt einen absoluten Wahrheitsanspruch. |43| Das Göttliche ist wie Quecksilber, das zerrinnt, sobald man versucht, es zwischen die Fingerspitzen zu nehmen – ein Sinnbild
     für den universalen Zustand der Welt.
    Gott und Welt, in den westlichen Religionen so streng geschieden, sind in hinduistischer Sicht ein und dasselbe, zwei Seiten
     derselben Medaille. Das Brahman, die Weltseele, und Atman, die Einzelseele, durchdringen einander in unaufhörlichen selbstschöpferischen
     Prozessen, für die es keinen Anfang und kein Ende gibt. Darum geht auch nichts in der Welt verloren. Der Weltprozess gleicht
     einer großen Recyclinganlage: Die Spuren, die wir hinterlassen, begegnen uns wieder. Vielleicht noch in diesem Leben, vielleicht
     erst in einem der folgenden unserer myriadenfachen Lebensläufe. Die Welt ist eine Falle. Wird die Seele der endlosen Irrfahrt
     durchs Samsara, den Reigen der Wiedergeburten, endlich überdrüssig, versucht sie, im Brahman Ruhe zu finden und in die Allseele
     einzugehen.
    Dem Hinduismus sind Lehrsätze mit Absolutheitsanspruch immer fremd geblieben. In diesem Zusammenhang ist mir eine Beobachtung
     wichtig: Der hinduistische Glaube kommt ohne historische Leitfiguren aus. Das ist anders im Buddhismus, und das ist noch einmal
     ganz anders im Judentum und dessen Nachfolgereligionen, dem Christentum und dem Islam. Die Berufung auf Buddha, Abraham und
     Moses, auf Jesus und Muhammad ist in diesen Religionen unentbehrlich.
    Religion ist nicht auf historisch stimmige Fakten angewiesen. Ihre Bezugsgestalten sind Bestandteil des kollektiven

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