Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
seiner Lebensgeschichte spielte ebenfalls die verklärende Erinnerung nachkommender Generationen
eine entscheidende Rolle. Tatsache ist, dass zur damaligen Zeit viele Söhne der Adelskriegerkaste mit ihrem Stand brachen
und das Asketenleben wählten. Das tat außer Buddha auch Mahavira, der später die Konkurrenzbewegung zum Buddhismus, den Jaina-Orden,
neu begründete. Mit 16 Jahren soll der junge Siddharta Gautama geheiratet haben. Seine Frau Yosadhara gebar ihm einen Sohn
Rahula.
Die Sakya-Provinz lag im Nordosten Indiens, am Fuß des Himalaya. Über sie ist Buddha bei seinen Wanderungen kaum hinausgekommen.
Die Region war von wichtigen Handelsstraßen durchzogen und befand sich im Umbruch. Zwischen den aufstrebenden, volkreichen
Städten verkehrten Handelskarawanen mit Hunderten, Tausenden von Fuhrwerken. So mag der Siddharta, der »Zielstrebige« mit
dem Sippennamen Gautama, durchaus in Wohlstand gelebt haben. Doch aus dem jungen Mann, mit dem der Vater bestimmt andere Pläne
hatte, wurde ein Aussteiger. Ob heimlich, wie es die Legende will, oder unter den Tränen der Eltern, wie eine andere Überlieferung
erzählt, Siddharta verließ seine Kaste und wählte das asketische Leben. Er vertraute sich Lehrern und Gurus an, die auf dem
Weg der totalen Disziplinierung des Körpers nach Yoga-Art die Heilssuche betrieben. Aber deren kleine Lösungen konnten den
großen Hunger des Sakyasohnes nicht befriedigen. Siddharta suchte weiter.
Ein Kranz bunter Geschichten umgibt den Buddha, der auszog, um ein Bettelmönch zu werden wie viele andere, die damals Indien
durchwanderten. Die bekannteste der Legenden ist die von den »Vier Ausfahrten«. Sie erzählt, wie der schwarzhaarige junge
Mann den Anstoß bekam, die Parks und Paläste zu verlassen.
Eines Tages fuhr er in Begleitung seines Wagenlenkers aus, um einen seiner Parks zu besuchen. Da bemerkte er einen Mann, »krumm
wie ein eingefallenes Dach, wankend, auf einen Stock gestützt, stolpernd, an der Neige seines Lebens«. Siddharta wollte wissen,
was diesem Mann zugestoßen sei, und der Wagenlenker erklärte ihm, es sei das Alter, das ihn so entstellt habe, ein Los, das
jeden Menschen erwarte. Tief beunruhigt kehrte Siddharta in seinen Palast zurück und verfiel in düsteres Grübeln. An einem
anderen Tag gewahrte er, wieder gemeinsam mit dem Wagenlenker, »einen Kranken, der an Schmerzen litt, gestürzt war und sich
in seinen Ausscheidungen wälzte«. Dem alarmierten jungen Mann erklärte sein Begleiter, dies sei ein kranker Mann, und Krankheiten |49| ereilten jeden Menschen. Als sie zum dritten Mal unterwegs waren, erblickte Siddharta einen Leichnam. Noch einmal erklärte
ihm der Wagenlenker, es sei das Los jedes Menschen zu sterben. Schließlich begegneten sie bei der vierten Ausfahrt »einem
Mann mit geschorenem Schädel, der ruhig seines Weges ging; er trug ein gelbes Gewand«. Die Abgeklärtheit des Asketen beeindruckte
Siddharta so sehr, dass er sich entschloss, ebenfalls sein Haus zu verlassen, um diesen Frieden zu erlangen.
Ich habe die Erzählung stark gekürzt, im Original umfasst sie mehrere Seiten. Religionswissenschaftler sind ihr auf den Grund
gegangen und datieren die Entstehung der Geschichte auf mehrere hundert Jahre nach dem Paranirwana, dem endgültigen Erlöschen
des Buddha. In der ältesten Überlieferung erscheint sie noch nicht. Sie ist wie die übrigen Legenden, die sich um das Leben
des Erleuchteten ranken, kein Bestandteil seiner realen Lebensgeschichte. Das mindert den Wert der Ausfahrt-Legende nicht.
Sie gehört in die Psychohistorie |50| Buddhas. Durch solche Erzählungen verinnerlicht sich Buddha den Seelen der Seinen und bleibt ihnen als Seelenführer gegenwärtig.
Abstrakte Lehrsätze bewirken das nicht.
|49|
Die Legende von den Vier Ausfahrten Buddhas.
|50| Jeden Religionsstifter umgeben solche Legenden, die sein Leben ins Wunderbare überhöhen und ihn zu einer außerordentlichen,
fast überirdischen Gestalt werden lassen. Ein Gesetz, das nicht allein der Lust des Fabulierens entstammt, sondern unserem
Bedürfnis, religiöse Werte zu verinnerlichen. Legenden wie Siddhartas Ausfahrten sind Fantasiereisen, Gefühlsverstärker. Auf
der Ebene der rationalen Argumente haben sie nichts zu suchen. Mache ich aus Wundern Beweise, bin ich im verkehrten Programm.
Alle zentralen Figuren der großen Religionen wehrten sich sogar ausdrücklich dagegen, ihre Lehren durch Wunder zu
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