Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
zugewandt und auf der rechten Seite liegend, seine letzten Stunden. Nachdem er letzte Anweisungen
für seine Mönchsgemeinde getroffen hatte, glitt er mit einem Lächeln hinüber ins endgültige Nirwana.
Dünnbauchbuddha, Dickbauchbuddha
Während ich an meinem Stehpult schreibe, bewacht mich eine Buddha-Bronze. Eine kleine sitzende Statue, 34 cm hoch, 5,4 kg
schwer, altersgrün patiniert, vermutlich aus Südostasien. Ein Erbstück aus meiner schwiegerelterlichen Familie. Buddha sitzt
wie gewohnt in Lotus-Haltung, die Rechte mit dem Donnerkeil weist zur Erde, die Linke ruht mit geöffneter Innenhand auf dem
Oberschenkel – eine Geste der Gunstgewährung. Ein reich verziertes Mönchsgewand fällt von seinen Schultern, der Oberkörper
liegt bloß. Auf die adelige |70| Herkunft weisen die lang gezogenen Ohrläppchen hin. Meditativ halb geschlossene Augen, ein Mund, den das Lächeln des Erlösten
umspielt, verleihen der Bronze eine Atmosphäre, die sie ins Nirwanahafte entrückt.
|70| Vor meinem Buddha sind gewiss früher einmal Räucherstäbchen entzündet worden, Blumen wurden über ihn gestreut, und Sutras
wie diese sind zu ihm aufgestiegen: »Wenig ist das Wasser der vier Weltmeere verglichen mit den Tränen, die ihr über die Verbindung
mit Unliebem und der Trennung von Liebem während eurer Wanderung durch die Welten vergossen habt, wenn man euch als Tiere
geschlachtet, als Soldaten getötet, als Übeltäter hingerichtet hat. Nicht ein Wesen ist zu finden, das nicht früher einmal
euer Vater, eure Mutter, euer Bruder, eure Schwester, eure Tochter gewesen wäre, während der endlosen Zeit, die ihr im Samsara
umhergeirrt seid.« Ja, Tränen und Leid. Hier ist jemand, der versteht und dessen offene Hand Gunst gewährt! Darum lieben die
Menschen Buddha, den Botschafter des Nirwana, das endlich Ruhe und sanftes Verlöschen verheißt.
Ganz anders der fröhliche, überlebensgroße Buddha mit dem dicken Bauch, dem ich am China-Restaurant des Darmstädter Hauptbahnhofs
begegne. Welch ein freundlicher Fettwanst sieht mich dort an! Alles Plastik natürlich, goldfarben aber auch, und ebenfalls
im Lotus-Sitz. Sein Lächeln ist jedoch nicht wie das meiner kleinen Statue, indisch, sondern hier lächelt Buddha chinesisch,
weltentrückt genießend.
Mit wie vielen unterschiedlichen Gesichtern kommt Buddha daher! Chinesisch, indisch, und nochmals anders im leeren Spiegel
des japanischen Zen-Buddhismus. Hundert Generationen von Mönchsgelehrten haben immer neue Buddha-Bilder geschaffen, neue Erlösungswege
geöffnet. Und doch haben sie nie den Bezug zum historischen Buddha, dem Siddharta Gautama vom Fuße des Himalaya, ganz verloren.
Die meditierenden Mönche begegneten ihrem Meister in immer neuen Gestalten, in den Buddhas der Vorzeit, deren Namen und Lebensläufe
sie fanden, und unter wieder anderen Namen in der Gegenwart. Doch die fernen allmächtigen Buddhas überbieten sie alle, die
Buddhas der Zukunft, Retter der Welten in künftigen Zeiten. Dass sie durchs Verlöschen des Meisters verwaist, seiner Begleitung
beraubt sein sollten, erschien den Mönchen unmöglich, ja unerträglich. Also suchten sie ihren Lehrer neu, verliehen ihm andere
Daseinsformen.
Seine Lehre hinterließ Buddha voller Lücken. Davon zeugt auch die folgende Geschichte. Irgendwann wurde er beinahe das Opfer
eines Mordanschlags. Devadatta, einer seiner Vettern, hatte eine Mörderbande gedungen, um den |71| Onkel zu beseitigen. Der Anschlag missglückte. Doch der Erhabene wurde dabei durch einen Steinsplitter verletzt. Entsetzt
fragten sich die Mönche, wie das geschehen konnte. Offenbar hatte ein schlechtes Karma Buddhas den Anschlag provoziert. Später
fand sich eine Erklärung für die Begebenheit. Danach hatte Buddha in einem seiner früheren Leben, »91 Kalpas zuvor«, mit seinem
Speer einen Menschen verwundet, und das werde ihm jetzt in diesem Leben vergolten. Die Sühne für eine Tat also, die unzählige
Menschenleben zurücklag: »Weißt du, wie lang ein Kalpa ist? Stell dir einen Vogel vor, der dort jenen Berg überfliegt und
dabei seinen Gipfel streift. Alle hundert Jahre geschieht das. Und die Zeit, die der Vogelflügel braucht, den Berg vor deinen
Augen abzutragen, das ist ein Kalpa.« Einige Mönche wandten ein, der Erleuchtete habe bei seinem Nirwana seine Vergangenheit,
das ganze Wiedergeburts-Karma vernichtet, sonst wäre ihm doch nicht die Erlösung widerfahren. Diskussionsbedarf
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