Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
ohne Ende!
Die Karma-Theorie war zwar eine überzeugende Lösung, doch warf sie endlose neue Fragen auf. Buddha übernahm sie trotzdem und
bettete sie in seine Lehre ein.
Mit der Karma-Lehre ist die Frage verbunden: Wie geraten die Wesen in die Geburtenfalle? Gab es einen Anfang, eine Art Sündenfall,
oder funktionierte das Samsara immer schon so? Die Antwort blieb Buddha schuldig. Gibt es eine Seele, die von Wiedergeburt
zu Wiedergeburt wandert oder gibt es sie nicht? Der Erleuchtete konnte derartige Fragen nicht ausstehen. Vielleicht hätte
er einige Lücken in seiner Lehre ausfüllen können, doch er wollte nicht. Theorie-Gestrüpp, Theorie-Gaukelei und Theorie-Fesseln
waren ihm verhasst. Durch vieles Theoretisieren werde man nicht frei »vom Geborenwerden, Altern und Sterben, von Sorgen, Jammer
und Schmerzen, von Kummer und Verzweiflung«. Theorien heilen nicht. Das war Buddhas Standpunkt.
Seine Laienanhänger interessierten sich ohnedies nicht für abstrakte Gedanken. Sie suchten ihr Heil bei dem Erleuchteten,
mehr nicht. Außerhalb der Mönchsgemeinschaft duldete dieser sogar großzügig den Volksglauben. Die traditionellen Tieropfer
verurteilte er zwar, ließ aber sonst die hinduistischen Glaubensvorstellungen und Volksbräuche unangetastet. Für die Heilung
von Krankheiten, für Fruchtbarkeit und weltliches Wohlergehen durften sich die buddhistischen Laien weiter an ihre vergänglichen
Götter wenden – und an die brahmanischen Priester, um die nötigen Riten bei einer Leichenverbrennung oder bei der Namensgebung
zu vollziehen. Hier waren die Brahmanen für Buddha keine Konkurrenz.
|72| Zen, denn vom Wasser weiß der Fisch auch nichts
In einem allerdings blieb Buddha unerbittlich: Das Eine in dem Vielen gab es für ihn nicht. Keine Allseele und keine Einzelseele,
kein Brahman und kein Atman, wie der hinduistische Glaube lehrte. Was aber wandert dann von einem Köper zum anderen? Wenn
keine Seele, was ist es dann? Darauf verweigerte der Erleuchtete jegliche Antwort. Ein Ding namens Seele existierte einfach
nicht. Es gab überhaupt keine dinghaften Gegenstände, erklärte er ein ums andere Mal seinen Mönchen. Fließprozesse laufen
ab, Dharmas. Gegenständlich, dinghaft, sehen wir die Welt nur deshalb, weil unsere Augen zu stumpf sind, das Fließen und Verfließen
wahrzunehmen: Dingheit ist optische Täuschung, genau wie unsere Ichheit, wie die Seele. Alles eine leere Illusion. Meditiert,
bis ihr euer Ich vergesst! Dieser Lehrsatz taucht in immer neuen Variationen ständig in den Sutras auf: Nur das Ich leidet.
Verschwindet das Ich in der Leere, verschwindet auch das Leiden. Namen, zum Beispiel Sariputta, Ananda oder Isidatta, sind
rein akustische Gewohnheiten. Schall und Rauch. Hinterfragen wir sie, stehen wir vor dem Nichts – und haben vielleicht schon
das erlösende Nirwana gewonnen.
Buddhaghose, der große Gelehrte unter den Mönchen, fasste Jahrhunderte nach dem Tod des Meisters dessen Lehre in den Sätzen
zusammen: »Bloß Leiden gibt es, doch kein Leidender ist da. Bloß Taten gibt es, doch kein Täter findet sich. Erlösung gibt
es, doch nicht den Erlösten. Den Weg gibt es, doch keinen, der ihn geht.« Und wie geht’s weiter im Text? Den Buddha gibt es,
doch keinen, der gekommen ist? Ist sogar der Buddha leer, eine Täuschung?
Genau diese Konsequenz zog Dogen, der Begründer des Zen, im Japan des 13. Jahrhunderts. Alles ist leer, lehrte Dogen. Die
große Leere ist Buddhas Fülle. Sie ist das einzig Reale der Dinge. Ein Buddha als Ding hat niemals existiert. Triffst du Buddha,
schlag ihn tot – er ist nur ein Gedankenklon. Solange du die Welt mit Gedankenklonen bevölkerst, wirst du die Welt nicht los.
Innen und Außen sind ein und dasselbe. Wie das Ich, wie dein Dich, alles ist Buddha-Natur. Alles, auch du. Von Buddha spürst
du nichts? Das ist kein Einwand, denn vom Wasser weiß der Fisch auch nichts.
Ein deutscher Professor namens Eugen Herrigel verbrachte einige Zeit in Japan und ging bei einem buddhistischen Zen-Meister
in die Lehre, der ihn nach den Regeln des Zen sechs Jahre lang in der Kunst des Bogenschießens unterwies. Das Büchlein, das
er darüber schrieb, heißt
Zen oder die Kunst des
Bogenschießens
. Es umfasst nur 94 Seiten, wurde aber seit 1951 in zwölf |73| Sprachen übersetzt und ist mit Hermann Hesses
Siddharta
für viele Menschen ein Türöffner in die Welt des Ostens.
Unter dem schwierigen Hantieren mit dem
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